Wahlkampf 2013

Kleine Anfrage: Konkrete Umsetzung des Afghanistan-Konzepts der Bundesregierung

15.02.2010: Die Bundesregierung hat im Vorfeld der Londoner Afghanistan-Konferenz am 28. Januar 2010 ihr Konzept für Eigenverantwortung, Verssöhnung und Reintegration vorgelegt. Wie dieser Prozess angesichts von Verhandlungspartnern, denen massive Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, vonstatten gehen soll, bleibt indes unklar.

Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Agnes Malczak, Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Ute Koczy, Tom Koenigs, Jerzy Montag, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Vorbemerkung der Fragesteller Die Bundesregierung hat im Vorfeld der Londoner Afghanistan-Konferenz am 28. Januar 2010 ihr Konzept "Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung: Das deutsche Afghanistan-Engagement nach der Londoner Konferenz" vorge- legt. Sie verspricht darin die Stärkung der afghanischen Eigenverantwortung, die Konzentration auf das Wesentliche sowie eine bessere Koordinierung des Engagements in Afghanistan. Ein wesentliches Element ist dabei die Unterstützung eines innerafghanischen Versöhnungsprozesses durch die internationale Gemeinschaft. Präsident Hamid Karzai hat in seiner Inaugurationsrede die nationale Aussöhnung und die Reintegration militanter Aufständischer in den Mittelpunkt seiner zweiten Amtszeit gerückt. Hamid Karzai bemüht sich dabei auch, direkte Verhandlun- gen mit den Führungsgruppen der verschiedenen aufständischen Gruppen (Mullah Omar, Hekmatyar, Haqqani-Clan) zu führen. Auch hat Hamid Karzai in London die Abhaltung einer "Grand Peace Jirga" angekündigt und den sau- dischen König Abdullah ibn Abd al-Aziz um Hilfe bei der Vermittlung gebe- ten. Die Bundesregierung hat sich entschlossen, diese Politik durch die Mitfinan- zierung des Fonds zur Reintegration zu unterstützen.

Vorbemerkung der Bundesregierung Der Prozess der nationalen Aussöhnung mit den regierungsfeindlichen Kräften und deren Wiedereingliederung in die afghanische Gesellschaft ist eine der Hauptherausforderungen für die neue afghanische Regierung. Dieser Prozess beruht auf der Erkenntnis, dass eine allein militärische Lösung des Konflikts in Afghanistan nicht möglich ist, sondern nur ein politischer Prozess zur Stabili- sierung des Landes führen wird.

Der Prozess der Aussöhnung und Wiedereingliederung liegt in afghanischer Verantwortung. Präsident Hamid Karzai hat deutlich gemacht, dass der Prozess auf drei Grundvoraussetzungen beruht: Aufgabe des bewaffneten Kampfes, Akzeptanz der afghanischen Verfassung und Einstellung von Kontakten zu Al Qaida bzw. anderen terroristischen Bewegungen. Die Bundesregierung unter- stützt diese "roten Linien" nachdrücklich. Der Prozess soll sich auf zwei Ebenen vollziehen: Auf politischer Ebene unter- nimmt die afghanische Regierung seit Herbst 2008 Bemühungen, mit der Talibanführung zu einer Verständigung zu kommen, um eine nationale Aus- söhnung zu erreichen. Seit Herbst 2008 hat die afghanische Regierung hierzu u. a. unter saudischer Vermittlung Gesprächskontakte mit der Taliban-Führung gehabt. Parallel zu den Gesprächen mit der strategischen Ebene soll den regierungs- feindlichen Kämpfern der mittleren und unteren Ebene ein konkretes Angebot zur Wiedereingliederung in die afghanische Gesellschaft gemacht werden. Der noch einzurichtende Reintegrationsfonds soll Teil dieses Wiedereingliede- rungsprogramms sein. Er soll dazu dienen, dieser Gruppe, die zumindest zum Teil aus wirtschaftlichen und/oder sozialen Gründen zur Waffe gegriffen hat, Anreize für diesen Schritt zu bieten. Die internationale Gemeinschaft hat sich auf der Londoner Afghanistan-Konferenz am 28. Januar 2010 bereit erklärt, einen solchen Fonds zu unterstützen. Die Bundesregierung will hierzu jährlich 10 Mio. Euro auf fünf Jahre bereitstellen. Die afghanische Regierung hat zu- gesagt, zur Kabuler Konferenz im Frühjahr 2010 ein Konzept für die Ausge- staltung des Programms und des Fonds vorzulegen. Hierzu gehören konkrete Programmvorschläge, Auswahlkriterien für die Teilnahme genau so wie die Verwaltung und Kontrolle der Arbeit des Fonds. Die afghanische Regierung wird hierbei von der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für Afgha- nistan (UNAMA) unterstützt. Bislang hat die afghanische Regierung noch keine konkreten Vorschläge präsentiert. Präsident Hamid Karzai hat zudem angekündigt, noch vor der Kabuler Konfe- renz eine Friedens-Jirga einzuberufen. Diese soll insbesondere dazu dienen, einen innerafghanischen, gesellschaftlichen Konsens über die Politik der Aus- söhnung und Wiedereingliederung voranzutreiben und zu festigen. Die Bereitschaft der Bundesregierung zur Finanzierung des Reintegrations- fonds und damit zu dem aus ihm finanzierten Programm beizutragen, ist Teil des politischen Ansatzes zur Konfliktlösung. Er passt sich ein in die Aufbau- arbeit der Entwicklungszusammenarbeit sowie das polizeiliche und militärische Engagement. Der Fonds muss transparente Strukturen und ausreichende Re- chenschaftspflichten haben. Er belohnt nicht die Gewaltbereitschaft. Er soll keine "Handgelder" an ehemalige Aufständische zahlen, sondern konkrete Maßnahmen finanzieren. Geplant sind Ausbildungsangebote und Schaffung von Arbeitsplätzen, u. a. auch für gesamte Dorfgemeinschaften.

1. Unterstützt die Bundesregierung die Absicht einer nationalen Aussöhnung von Präsident Hamid Karzai mit allen Afghanen? a) Wie positioniert sich die Bundesregierung bezüglich der Tatsache, dass im Hinblick auf das Ziel einer Beendigung des Konflikts mit Aufständi- schen und radikalen Islamisten verhandelt wird und dies eventuell zu deren Regierungsbeteiligung führen kann?

Nach Auffassung der Bundesregierung kann der Konflikt in Afghanistan nicht allein militärisch gelöst werden sondern bedarf auch eines politischen Prozes- ses, der unter Führung der afghanischen Seite stehen sollte. Die Bundesregie- rung begrüßt deshalb die Politik der afghanischen Regierung, den Konfliktauch auf dem Verhandlungswege beizulegen. Gedankenspiele über Ausgang und Folgen dieses Prozesses sind spekulativ. Die Bundesregierung stimmt mit der afghanischen Regierung darin überein, dass Voraussetzung für Aussöhnung und Reintegration ist, dass die Aufständischen die Waffen niederlegen, einer Unterstützung der Aufstandsbewegung abschwören, ihre Verbindungen mit Al Qaida und anderen terroristischen Gruppen kappen und die afghanische Verfas- sung akzeptieren.

b) Wie reagiert die Bundesregierung auf die Kritik aus der afghanischen Zivilgesellschaft, an einer Verhandlung mit Talibanführern, die für massive Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind und im Zuge des Aussöhnungsprozesses womöglich rehabilitiert werden?

Die juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen muss in Händen der Afghanen liegen. Grundlage für Aussöhnung muss die afghanische Verfas- sungs- und Rechtsordnung sein. Afghanistan hat die grundlegenden Menschen- rechtskonventionen und auch das römische Statut ratifiziert. Hieran muss sich ein Aussöhnungsprozess messen lassen.

c) Wie bewertet die Bundesregierung die Auswirkungen auf die Unter- stützung derer, die bisher mit den internationalen Kräften kooperiert haben und das nationale Aussöhnungs- und Reintegrationsprogramm als falsch empfinden?

Die Frage ist spekulativ, auf die Vorbemerkung wird verwiesen. Nach Kenntnis der Bundesregierung gibt es in Afghanistan eine grundsätzliche Unterstützung für den Ansatz der afghanischen Regierung, über Aussöhnung und Wiederein- gliederung den Konflikt zu lösen.

d) Wie bewertet die Bundesregierung Forderungen aus der Zivilgesell- schaft und derer, die bisher mit den internationalen Kräften kooperiert haben, alle Personen, denen schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen angelastet werden, aus wichtigen Staatsämtern zu entfernen, bzw. diese für wichtige Staatsämter nicht zuzulassen und diese Personen juristisch zur Verantwortung zu ziehen?

Auf die Antwort zu Frage 1b wird verwiesen. e) Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass Frauen umfangreich an einem nationalen Verhandlungsprozess beteiligt werden?

Der nationale Versöhnungs- und Reintegrationsprozess steht unter der Verant- wortung der afghanischen Akteure, die eine innerafghanische Einigung über seine Gestaltung herbeiführen müssen. Die Bundesregierung hält es dabei für zielführend, dass er einen umfassenden, inklusiven und transparenten Charak- ter hat und alle Bevölkerungsteile, insbesondere auch die Zivilgesellschaft, in geeigneter Weise eingebunden werden.

f) Wie will die Bundesregierung sichern, dass Menschenrechte und insbe- sondere Frauenrechte bei Verhandlungen nicht auf der Strecke bleiben, sondern anerkannt und gesichert werden?

Die Bundesregierung fördert die afghanische Zivilgesellschaft mit Program- men im Rahmen der guten Regierungsführung, Menschenrechtsprojekten und Wiederaufbau- und Entwicklungszusammenarbeit. Hierzu gehören insbeson- dere auch Maßnahmen zur besseren Wahrnehmung der Rechte der Frauen. Sol- che Programme dienen wesentlich dem Zweck, die Teilhabe der afghanischen Zivilgesellschaft an den politischen Prozessen zu stärken. Die Bundesregierung wird an solchen Programmen auch künftig festhalten.

g) Welche Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, um in einem solchen Versöhnungsprozess zivilgesellschaftliche Kräfte zu stärken und zu schützen?

Auf die Antwort zu Frage 1f wird verwiesen. h) Gibt es im Hinblick auf die Kabuler Konferenz Initiativen der Bundes- regierung die Geltung und Umsetzung der allgemeinen Menschen- rechte in Afghanistan zu stärken?

Die Bundesregierung fördert im Rahmen ihres zivilen Engagements verschie- dene Projekte zur Stärkung der Menschenrechte in Afghanistan. Hierzu gehört der Aufbau einer Arbeitseinheit für Menschenrechte im afghanischen Justiz- ministerium sowie ein Programm zur Rechtshilfe insbesondere für Frauen.

i) Gibt es Bestrebungen eine Wahrheits- und Versöhnungskommission einzurichten, um politisch motivierte Verbrechen während der Zeit der Taliban aufzuarbeiten?

Inwieweit bestehende Mechanismen fortgeführt bzw. modifiziert werden, ist noch nicht klar. Diese Fragen sind Gegenstand innerafghanischer Prozesse. j) Wird die afghanische unabhängige Menschenrechtskommission, die bereits seit 2002 eine Liste von Menschenrechtsverletzungen und daran beteiligten Personen erstellt und an Präsident Hamid Karzai übergeben hat, mit eingebunden bzw. aktiv daran teilnehmen dürfen?

Präsident Hamid Karzai hat in seiner Rede auf der Londoner Afghanistan-Kon- ferenz erklärt, einen Nationalen Rat für Frieden, Versöhnung, und Reintegra- tion zu bilden, noch bevor die angekündigte Friedens-Jirga stattfindet. Über Pläne zur Zusammensetzung dieses Rates ist bislang nichts bekannt. Aus Sicht der Bundesregierung ist es wünschenswert, dass die personelle Zusammen- setzung dieses Rates für die afghanische Gesellschaft repräsentativ ist und zivilgesellschaftliche Strukturen angemessen berücksichtigt werden. Die Bun- desregierung wird sich dafür gegenüber der afghanischen Regierung einsetzen.

b) Welche konkreten Angebote an Jobs, Ausbildung, Land und finanziel- ler Hilfe sind bei der Umsetzung des Reintegrationsprogramms in wel- chen Bereichen vorgesehen? Auf die Vorbemerkung wird verwiesen. Aus der Sicht der Bundesregierung sollte es nur projekt- und maßnahmenorientierte Sach- und Geldleistungen aus dem Fonds geben. Denkbar sind hierbei z. B.: "Cash-for-Work"-Programme, Ausbildungsprojekte, Kleinkredite, z. B. zur Aufnahme eines Handwerkes.

c) Wie beurteilt die Bundesregierung die Kritik an solchen Geld- und Landzusagen aus dem notleidenden Teil der Bevölkerung, dass diese nicht in den Genuss solcher kommen und sich daher benachteiligt und ungerecht behandelt sehen, da sie nicht zu Waffen gegriffen haben, son- dern sich stets kooperativ verhalten, keine Kontakte zu Al Quaida un- terhalten und die Verfassung anerkannt haben? Auf die Vorbemerkung sowie die Antwort zu Frage 2a wird verwiesen.

d) Nach welchen Kriterien und mit welchem Verfahren soll die Erfüllung der Bedingungen für die Teilnahme am Reintegrationsprogramm (Ver- zicht auf Gewalt, Abbruch aller Kontakte zu Al Quaida, Anerkennung der afghanischen Verfassung) wirksam überprüft werden? Sind neben materiellen Hilfsleistungen auch "Umerziehungsmaßnah- men" geplant? Pläne für "Umerziehungsmaßnahmen" sind der Bundesregierung bisher nicht bekannt, im Übrigen wird auf die Vorbemerkung verwiesen.

e) Mit welchen Maßnahmen und Kontrollinstrumenten will die Bundes- regierung sicherstellen, dass die für die Durchführung des Reintegra- tionsprogramms verantwortliche afghanische Regierung die durch den Internationalen Fonds zur Verfügung gestellten Mittel zweckmäßig, effektiv und effizient einsetzt und der Missbrauch für machtpolitische Partikularinteressen sowie durch Korruption ausgeschlossen ist? Hierüber ist zwischen der afghanischen Regierung und der internationalen Ge- meinschaft noch Einigung zu erzielen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass der Fonds gemeinsam von der afghanischen Regierung und der internatio- nalen Gemeinschaft verwaltet werden wird. Die beiden existierenden großen Fonds, der Afghanische Treuhandfonds für Wiederaufbau (Afghanistan Re- construction Trust Fund/ARTF) und der Rechtsstaatlichkeitsfonds (Law and Order Trust Fund/LOTFA) bieten einen Orientierungsrahmen für die Regula- rien des Reintegrationsfonds.

f) Welche Vorkehrungen trifft das von der Bundesregierung mitfinanzierte Reintegrationsprogramm, um die Talibanaussteiger von der Rückkehr zu aufständischen Kräften abzuhalten und vor Racheakten aus dem Talibanlager zu schützen? Auf die Vorbemerkung wird verwiesen. Ein von der afghanischen Regierung auszuarbeitendes Programm existiert noch nicht. Die Bundesregierung geht da- von aus, dass beiden Aspekten in der Fragestellung in dem noch andauernden innerafghanischen Formulierungsprozess Rechnung getragen wird. Sobald dieser abgeschlossen ist, wird zu bewerten sein, welche Maßnahmen dafür vor- gesehen sind und ob sie ausreichend sind.

g) Wie soll der Anspruch umgesetzt werden, nicht nur einzelne Aufstän- dische, sondern jeweils die ganzen Dorfgemeinschaften aus dem Re- integrationsfonds zu fördern? Auf die Vorbemerkung wird verwiesen. Aus der Sicht der Bundesregierung er- scheint es sinnvoll, Maßnahmen im Rahmen des Reintegrationsprogramms mit bereits bestehenden Programmen und Strukturen abzustimmen und zu verzah- nen. Hierzu gehören insbesondere das "National Solidarity Programme" sowie die "Community Development Councils".