Wahlkampf 2013

Rede zu Vorermittlungen im Bundeskanzleramt zum Verdacht der Akten- und Datenvernichtung

05.11.2003: Rede von Hans-Christian Ströbele zu Vorermittlungen im Bundeskanzleramt zum Verdacht der Akten- und Datenvernichtung im Rahmen einer Aktuellen Stunde

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Fakt ist, dass es zum Zeitpunkt des Regierungswechsels 1998 im Bundeskanzleramt Datenlöschungen gab.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Gibt es heute auch!)

Fakt ist auch, dass Akten fehlen. Im so genannten Leuna-Komplex beispielsweise sechs Bände mit Originalen und Kopien. Das habe nicht ich festgestellt, sondern der zuständige Generalstaatsanwalt in Köln. Ich habe das aus dem "Spiegel" vom 30. Juni 2003 zitiert. Damit sollten Sie sich auseinander setzen. Uns sollten Sie in dieser Aktuellen Stunde erklären, warum diese Akten weggekommen sind und wo sie sich befinden.

(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Vielleicht in Schönefeld im Kofferraum!)

Der Generalstaatsanwalt hat in diesem Interview am Ende gesagt: Ein Vorsatz sei für die Staatsanwaltschaft - jedenfalls bis zu diesem Interview - nicht erkennbar. In dieser Einschätzung folge ich dem Herrn Generalstaatsanwalt nicht, weil es auf der Hand liegt, dass vorsätzlich gehandelt wurde: Warum wurden gerade diejenigen Akten nicht gefunden - der Kollege Stadler hat es vorhin ein bisschen vorsichtiger formuliert -, die hinsichtlich des Komplexes Leuna besonders interessant waren, die schon vorher zwei Untersuchungsausschüsse beschäftigt hatten und die das Panzergeschäft mit Saudi-Arabien - ich komme gleich noch auf einen dritten Fall zu sprechen - betrafen? Warum finden sich gerade für diesen kritischen Zeitraum von anderthalb Jahren keine Akten? Es gibt für die Zeiträume davor und danach Akten; aber es finden sich keine Akten für den Zeitraum, in dem das Geschäft zustande gekommen und abgewickelt worden ist. Es finden sich beispielsweise keine Akten über das Panzergeschäft mit Saudi-Arabien. Das Geschäft ist zustande gekommen und abgewickelt worden in der Zeit von Oktober 1990 bis April/Mai 1991. Gerade für diesen Zeitraum fehlen die Akten. Sie fehlen auch für die Zeiträume danach, in denen die Bestechungsgelder, die aus dem Deal mit Saudi-Arabien stammen, geflossen sind. Die Fragen "Wo ist das Motiv? Wo ist der Vorsatz? Was könnte dahinter stecken?" lassen sich beantworten, wenn man sich einmal anschaut, welche Akten weggekommen sind. Ich hätte von Ihnen erwartet, Sie hätten hierüber gegenüber dem damaligen Untersuchungsausschuss, dessen Mitglieder fast vollständig anwesend sind, sowie gegenüber dem Bundestag und der Öffentlichkeit Rechenschaft abgelegt. Ich will zu einem dritten Komplex kommen. Die Lateiner hätten gesagt: Si tacuisses, philosophus mansisses. - Übertragen auf diesen Fall könnte man den Satz so übersetzen: Wenn Sie geschwiegen hätten, dann hätte sich niemand mehr mit dieser Sache beschäftigt. Aber Sie wollen, dass man darüber redet. Ich möchte Sie daher ernsthaft hinsichtlich dieses dritten Komplexes fragen: Warum waren die Akten über das Milliardengeschäft Bearhead, die es im Kanzleramt gab, in der Akte "Weinbrennerei Rüdesheim" versteckt?

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Aha!)

Was hat die Akte über ein geplantes Panzergeschäft in Kanada in Milliardenhöhe in der Akte "Weinbrennerei Rüdesheim" zu suchen?

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Darauf wird man einen speziellen Rüdesheimer getrunken haben!)

Es gibt da einen Verdacht, den ich schon häufiger ausgesprochen habe. Nachdem der Kollege Hirsch diese Akten gefunden und sie dem Untersuchungsausschuss dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hatte, haben wir uns diese Akte angeschaut. Wir haben dabei festgestellt, dass es in diesen Akten eine Visitenkarte des Waffenhändlers Schreiber gibt. Auf der Visitenkarte findet sich eine handschriftliche Notiz des damaligen Bundeskanzlers. Diese Notiz wurde auf die Visitenkarte geschrieben, bevor der damalige Bundeskanzler nach Halifax in Kanada gefahren ist, um gemeinsam mit dem damaligen Wirtschaftsminister Rexrodt dieses Panzergeschäft in Kanada zu unterstützen und dafür bei der kanadischen Regierung zu werben. Es gibt einen Zusammenhang, der uns in die heutige Zeit führt.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wie lautet die Notiz?)

Denn zehn Tage bevor diese Visitenkarte ausgehändigt worden ist,

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Es wird immer spannender!)

war der Waffenhändler Schreiber bei Ihrem Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, bei Herrn Dr. Schäuble, und zwar im Nachgang einer Spende von Herrn Schreiber in Höhe von 100.000DM, die Herr Dr. Schäuble illegalerweise angenommen hat. Da liegen die Zusammenhänge, die aufgeklärt werden müssen. Wir wollen von Ihnen gerne wissen, wie es im Einzelnen gewesen ist. Warum sind damals gerade diese wichtigen Akten im Kanzleramt verschwunden und warum sind die Unterlagen über das Panzergeschäft in die Akte "Weinbrennerei Rüdesheim" gesteckt worden?

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Diese Fragen beantworten Sie nicht. Sie halten sich an einem Punkt auf, der mit der Sache überhaupt nichts zu tun hat. Ich bin dankbar, dass Sie heute diese Aktuelle Stunde beantragt haben. So können wir die Fakten noch einmal auf den Tisch legen und können der Öffentlichkeit all das in Erinnerung rufen, was Sie in der damaligen Zeit gemacht haben.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, Sie müssen nun wirklich zum Schluss kommen.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Aktenschwund und die Löschung der Dateien sind nur der kleinere Teil von dem, was der Untersuchungsausschuss damals aufgeklärt hat. Danke sehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)