Wahlkampf 2013

Bundestagsrede von Hans-Christian Ströbele zum Jugendstrafvollzug

28.05.2004: Rede Hans-Christian Ströbeles zur ersten Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Jugenddelinquenz (Drucksache 15/1472) und des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP "Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten" (Drucksache 15/2192)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Die Kollegin Erika Simm hat gebeten, ihre Rede zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann erteile ich jetzt dem Abgeordneten Hans-Christian Ströbele das Wort. Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen):

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich kurz fassen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen) Ich verstehe sowieso nicht, warum wir kurz vor Pfingsten dieses alte Thema erneut diskutieren müssen.

(Silke Stokar von Neuforn [Bündnis 90/Die Grünen]: Das passt in die 60er-Jahre!)

Es handelt sich nicht um einen wunderbaren, mit ganz neuen Ideen gefüllten Gesetzentwurf des Bundesrates oder einzelner Länder, sondern um einen Gesetzentwurf, den wir schon im Bundestag beraten und abgelehnt haben und der schon im Bundesrat mehrfach beraten worden ist. Er ist vom Strafverteidigertag, vom Anwaltstag, vom Deutschen Jugendgerichtstag und von nahezu allen Institutionen diskutiert und abgelehnt worden, und zwar aus gutem Grunde.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD) Denn er ist nicht nur alt, sondern er enthält auch nichts Neues und er geht von zwei völlig falschen Voraussetzungen aus. Die eine falsche Voraussetzung findet sich im ersten Satz dieses Gesetzentwurfes. Dort wird auf eine Statistik hingewiesen. Wir haben das nicht erfunden, sondern das steht in dem Gesetzentwurf. Es wurde nämlich die falsche Behauptung aufgestellt, dass die Jugenddelinquenz in den letzten Jahren zugenommen habe. Das Gegenteil ist wahr. Von 1998 bis 2003 hat die Jugenddelinquenz, übrigens auch die Kinderdelinquenz, abgenommen, und zwar exorbitant. Sie hat auch im Jahr 2003 abgenommen. Von 1997 bis 2003 hat sie um 15 bis 17 Prozent abgenommen. Im Jahr 2003 hat die Delinquenz von deutschen Jugendlichen um 1 Prozent abgenommen, die von ausländischen Jugendlichen, die angeblich besonders gefährlich sind, weswegen man dauernd solche Gesetze vorschlagen muss, um über 2 Prozent. Schon diese Voraussetzung stimmt also nicht. Ich weiß nicht, warum wir uns dann mit diesem Vorschlag hier auseinander setzen sollen.

(Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ CSU]: Die Verhängung von Jugendstrafen über zwei Jahre hat zugenommen!)

Die zweite falsche Voraussetzung, die sich inzidenter schon durch die Reden, aber auch durch den Entwurf zieht, ist der Irrglaube, die falsche Auffassung, die von den wahren Tatsachen unberührt ist, dass jugendliche Straftäter nach dem Jugendstrafrecht milder bestraft würden, dass das ein Privileg für Jugendliche und Heranwachsende sei und diese damit nicht in dem Maße zur Rechenschaft gezogen werden könnten, wie es bei Erwachsenen der Fall sei. Dem ist überhaupt nicht so. Das Jugendstrafrecht geht nur mit anderen Sanktionen und nach anderen Kriterien vor. Als Strafverteidiger wissen wir, dass Jugendliche sehr häufig sogar härtere Strafen, auch Freiheitsstrafen, bekommen als Erwachsene. Das geschieht etwa deshalb, weil das Gericht der Auffassung ist, dass in dem Augenblick, in dem das Urteil gefällt wird, zur erzieherischen Einwirkung auf den Jugendlichen die Verhängung einer Freiheitsstrafe auch ohne Bewährung erforderlich ist. Deshalb sind all die Argumente, die hier durchscheinen, zum Beispiel Heranwachsende im Alter von 21 Jahren, die fürchterliche Dinge gemacht hätten, dürften nicht nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden, falsch. Nach dem Jugendstrafrecht werden sie dann behandelt, wenn das Gericht - häufig aufgrund von Sachverständigengutachten - zu der Überzeugung kommt, dass sie in ihrem Entwicklungsstand Jugendlichen gleichzustellen sind. Sonst wird Erwachsenenstrafrecht angewendet.

(Dr.Uwe Küster [SPD]: Richtig!)

Sie wollen das umkehren. Allein aus der Tatsache, dass Sie fordern, dass die Höchststrafe von zehn auf 15 Jahre heraufgesetzt wird, ergibt sich die eigentliche Intention dieses Gesetzentwurfs. Das ist der ideologische Hintergrund.

(Beifall bei Abgeordneten des Bündnisses 90/Die Grünen)

Sie wollen in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, dass die Länder, die solche Gesetze im Bundesrat immer wieder einbringen, die Einzigen sind, die wirklich gegen Jugendkriminalität vorgehen und die Bevölkerung schützen wollen, während diejenigen, die solche Gesetze nicht haben wollen, weil sie wissen, dass sie in die Irre führen und nicht helfen, nicht genügend gegen Jugendkriminalität tun. Auf diesem Wege folgen wir Ihnen nicht. Wir gehen davon aus, dass die Gesetze, die wir haben, grundsätzlich richtig und ausreichend sind und dass wir alles vermeiden sollten, dass wir eine Entwicklung bekommen, wie sie etwa in einigen Staaten der Vereinigten Staaten zu beobachten ist, wo mit Jugendlichen, manchmal mit Kindern, strafrechtlich in gleicher Weise umgegangen wird wie mit Erwachsenen. Das ist nicht unsere Auffassung von einem Rechtsstaat. Das wollen wir hier in Deutschland nicht haben.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD)

Ich sage Ihnen abschließend, Herr Kollege Kauder: Sie haben bemängelt, dass das Jugendstrafvollzugsgesetz noch nicht auf dem Tisch liegt. Ich kann Sie beruhigen. Sie konnten sich damit auch schon befassen. Es ist ein sehr umfangreicher Entwurf des Bundesjustizministeriums. Wir machen unsere Arbeit, die sehr schwierig und umfangreich ist. Sie sollten nicht den Eindruck erwecken, dass sich das Bundesjustizministerium oder die Koalition vor solchen Aufgaben drückt.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der SPD - Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: Warten wir mal ab, bis der Entwurf vorliegt!)