Wahlkampf 2013

Persönliche Erklärung von Hans-Christian Ströbele zur Abstimmung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung

18.06.2004: Erklärung von Hans-Christian Ströbele gemäß § 31 GO zum Tagesordnungspunkt Nachträgliche Sicherungsverwahrung

Ich kann dem Gesetzentwurf nicht zustimmen:

1. Trotz deutlicher Verbesserungen am Regierungsentwurf während der parlamentarischen Beratungen bleibt der problematische Kern des Gesetzes: In Zukunft kann Sicherungsverwahrung nachträglich verhängt werden auch für Ersttäter und für Heranwachsende.

Nach diesem Gesetz werden mehr Menschen, die gegen sie verhängte Strafen voll verbüßt haben, für viele Jahre im Gefängnis eingesperrt. Diese Menschen werden zwei, fünf, acht Jahre und länger im Gefängnis bleiben, ohne dass eine strafrechtliche Schuld dies noch rechtfertigt, in diesem Sinne also "schuldlos". Begründet wird dieses weitere Einsperren im Gefängnis mit ihrer Gefährlichkeit, der Gefahr also, dass sie wieder schwere Verbrechen begehen werden, unter denen die Opfer, Kinder, Frauen und andere Menschen, schwer zu leiden haben. Dem Gesetz liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen - Richter und Gutachter - zuverlässig feststellen können, dass ein Mensch nach Verbüßung seiner Strafe und der Haftentlassung wieder schwere Straftaten begehen wird. Diese Annahme ist falsch.

In der Anhörung des Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf wurden von sehr vielen Sachverständigen durchgreifende Zweifel an solchen Prognosen einer späteren Gefährlichkeit von Straftätern geäußert und begründet.

  • z.B. berichte der ehemalige Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof Dr. Schäfer von "haarsträubenden" Gutachten aus seiner Richterpraxis, auf die Gefährlichkeitsprognosen gestützt waren. Deshalb müssten auch formale Voraussetzungen, wie Vorverurteilungen oder mehrere Strafen, eingrenzend wirken.
  • Prof. Rasch vermutet in seinem Lehrbuch für Forensische Psychiatrie, dass "60 bis 70 Prozent der Personen, die wegen Gefährlichkeit in Gewahrsam gehalten werden, überhaupt nicht gefährlich sind."

Wie unsicher und falsch Prognoseentscheidungen für Straftäter sind, ergibt sich umgekehrt auch daraus, dass immer wieder Straftäter vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen werden, die kurze Zeit später erneut schwerste Straftaten begehen. Auch diese Entlassungen nach Verbüßung eines Teiles der Strafe erfolgen auf Grund von Gutachten und Entscheidungen von Gerichten, die eine Gefährlichkeit für die Zukunft verneinen. Oft eine verhängnisvoll falsche Prognose, wie sich später zeigt.

Das Gesetz lässt die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung auch für Verurteilte zu, die wegen nur einer Tat zu einer Strafe von fünf Jahren verurteilt wurden. Damit muss die Grundlage für eine Prognose der Gefährlichkeit nicht mehr wie bisher eine "Karriere" als Straftäter sein, aus der sich ein "Hang" zur Begehung von Straftaten ergeben könnte, sondern möglicherweise nur ein einziger Vorfall, also eine sehr eingeschränkte Tatsachenbasis.

2. Ich bin der Auffassung, dass das Gesetz über die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Ersttäter mit dem Grundgesetz und auch Art. 5 EMRK nicht zu vereinbaren ist. Dr. Kinzig hat dies in der Anhörung dargestellt. Spätestens beim Europäischen Gerichtshof droht das Gesetz zu scheitern.

3. Sicherungsverwahrung war immer eine sehr umstrittene Sanktion. Sie wurde durch die Nazis im "Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher" im Herbst 1933 ins deutsche Strafgesetzbuch eingefügt. In der DDR wurde diese Sanktion als "inhaltlich faschistisch" 1952 für ungültig erklärt. In der Bundesrepublik wurde der Anwendungsbereich in den siebziger Jahren stark eingeschränkt. Sicherungsverwahrung konnte nur zusammen mit dem Urteil, also nicht nachträglich, angeordnet werden und auch nur nach mehreren vorangegangenen Verurteilungen zu Freiheitsstrafen und längeren Strafverbüßungen. Die Grünen waren lange Zeit grundsätzlich gegen Sicherungsverwahrung und haben wie andere Bürgerrechtler die Abschaffung gefordert, programmatisch jedenfalls weitere erhebliche Einschränkungen der Anwendungsmöglichkeit. Dem fühle ich mich persönlich verpflichtet.

4. Im Frühjahr 1998 wurde der Anwendungsbereich der Sicherungsverwahrung durch die schwarz-gelbe Regierungskoalition damals erheblich erweitert. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wurde genauso wenig ins Gesetz aufgenommen wie die Sicherungsverwahrung für Ersttäter.

Einzelne CDU/CSU-geführte Bundesländer haben in den letzten Jahren die nachträgliche Sicherungsverwahrung in Landesgesetze aufgenommen.

Die rot-grüne Regierungskoalition hat kurz vor Ende der letzten Legislaturperiode nach intensiven internen Diskussionen eine sog. vorbehaltene Sicherungsverwahrung ins Gesetz geschrieben. Die Einführung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung war diskutiert, aber verworfen worden.

Es gibt seither keine neuen Gründe, die jetzt, anderthalb Jahre später, die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung und gar noch für Ersttäter notwendig machen. Die Kriminalität hat nicht zugenommen. Schwerste Sexualstraftaten, begangen an Kindern, hat es leider immer geben. Sie waren immer wieder Anlass für öffentliche Diskussionen und Forderung nach schärferen Gesetzen. Solche schwersten Verbrechen, auch Sexualmorde, sind nicht häufiger geworden, die Anzahl hat nicht zugenommen. Sie ist seit 1975 und auch in den letzten Jahren in Deutschland sogar zurückgegangen.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 10. Februar 2004 die Regelungen für die nachträgliche Sicherungsverwahrung in Ländergesetzen für verfassungswidrig erklärt. Eine knappe Mehrheit im Gericht hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung "nicht von vornherein unter dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit" gestellt. Die Minderheit hat verfassungsrechtliche Bedenken. Die Mehrheit hat die Regelung der Länder in der Auslegung durch das Gericht noch bis 30. September 2004 für anwendbar erklärt. Bis dahin soll der Gesetzgeber prüfen, ob er Anlass für ein Gesetz sieht.

Das Bundesverfassungsgericht hat keineswegs ein Gesetz über die Einführung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung gefordert und schon gar nicht eine solche für Ersttäter.

Ich bei war bei der Ausgestaltung einer gesetzlichen Regelung zu Kompromissen bereit. So auch dazu, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung für diejenigen Straftäter einzuführen, die nicht von der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung erfasst werden konnten, weil bei Inkrafttreten dieses rot/grünen Gesetzes im Jahr 2002 ihre Verurteilungen schon rechtskräftig waren. Damit hätte der Forderung ausreichend Rechnung getragen werden können, dass von den acht Straftätern, die Anlass der Entscheidung des Verfassungsgerichts waren, niemand in Freiheit kommt, ohne dass seine Gefährlichkeit geprüft und gegebenenfalls Sicherungsverwahrung nachträglich verhängt werden kann. Ich wäre damit über viele Schatten gesprungen.

Ich habe aber bei allen Gesprächen stets deutlich gemacht, dass ich das Gesetz mit der Einführung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung für Ersttäter für nicht verantwortbar halte und dem nicht zustimmen kann.