Wahlkampf 2013

Rede von Hans-Christian Ströbele im Bundestag zu Rechte von Angeklagten und internationale Rechtshilfe

19.06.2015: 18.06..2015 Rede von Hans-Christian Ströbele zu TOP 24: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe

Drucksache 18/3562

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, der das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 08.11.2012 - Neziraj v. Deutschland umsetzt, haben wir uns schon intensiv befasst: Anfang des Jahres haben wir in einer ersten Lesung die verschiedenen positiven Veränderungen wie auch kritischen Punkte diskutiert. Im Februar kamen wir zu einem sogenannten Berichterstattergespräch zusammen, in dem uns verschiedene Sachverständige aus Wissenschaft und Praxis ihre fachliche Einschätzung zum Gesetzentwurf gaben. Überwiegend besteht wohl Einigkeit, dass die Zielrichtung des Gesetzes eine Gute ist: die Berufung des Angeklagten darf nicht mehr automatisch verworfen werden, wenn anstelle des Angeklagten ein entsprechend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidiger in einem Termin zur Berufungshauptverhandlung erscheint. Dann kann in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt werden - soweit "die Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich ist". Das finde ich begrüßenswert. Bislang galt, dass die Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zu verwerfen ist, wenn er zu Beginn der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung nicht erscheint. Und das sogar dann, wenn ein schriftlich bevollmächtigter Verteidiger anwesend war. Eine Vertretung durch einen bevollmächtigten Verteidiger war nur in einigen Ausnahmefällen möglich - die Regel war also die sofortige Verwerfung der Berufung. In seiner Entscheidung hatte der Europäische Gerichtshof zwar betont, dass die Anwesenheit des Angeklagten durchaus eine große Bedeutung für den Strafprozess habe - er nennt dabei u.a. die Stichworte "Gewährung rechtlichen Gehörs", "Abgleich der Aussagen vom Angeklagten und Zeugen". Demgegenüber sei ebenso von grundlegender Bedeutung das Recht des Angeklagten "sich selbst zu verteidigen" oder sich "durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen". Dieses Recht soll ein Angeklagter nicht schon deshalb verlieren, weil er nicht zur Verhandlung erscheint. Die legitime Forderung nach der Anwesenheit des Angeklagten in der Verhandlung könne durch andere, weniger einschneidende Mittel als mit der Verwerfung des Rechtsmittels durchgesetzt werden.

Wenn ich mir diese Argumente im Urteil des Gerichtshofs anschaue, dann bleiben meine Bedenken in Bezug auf den § 329 Abs. 1, S.2 Nr. 1-3 des vorliegenden Gesetzentwurfs. Diese habe ich auch schon zur ersten Lesung geäußert und möchte sie hier nochmals wiederholen:

Warum soll in den dort aufgeführten Fällen gleich eine Verwerfung des Berufungsverfahrens möglich sein? Wäre nicht eher ein milderes Mittel, z.B. Absetzen des Termins angemessen wäre?

Im Falle des § 329 Abs. 1, Nr.1. StPO-E soll eine Verwerfung der Berufung u.a. schon möglich sein, wenn der Verteidiger sich ohne genügende Entschuldigung entfernt hat (...) oder der Verteidiger den ohne genügende Entschuldigung nicht anwesenden Angeklagten nicht weiter vertritt. Angenommen der Angeklagte ist - aus welchen Gründen auch immer - nicht zur Verhandlung erschienen und sein Anwalt sagt zu Beginn der Verhandlung "Mir reicht’s - ich lege das Mandat nieder" und geht. Nach dem Gesetzentwurf müsste sich der Angeklagte das Verhalten seines Verteidigers zurechnen lassen. Das mag im Zivilprozess zwar so gelten, nicht aber im Strafprozess.

In der Begründung führen sie aus, dass die Verwerfung in einem solchen Fall allein durch den Umstand gerechtfertigt sein soll, dass der Angeklagte seiner trotz Vertretungsmöglichkeit grundsätzlich fortbestehenden Pflicht zum Erscheinen ohne genügende Entschuldigung nicht nachgekommen ist.

Es ist bedauerlich, dass in dem genannten Beispielfall nicht ein weniger einschneidendes Mittel gewählt wurde, bzw. der Angeklagte die Chance auf einen zweiten Termin für die Verhandlung bekommen soll und sich in der Zwischenzeit um einen Ersatzverteidiger bemühen kann.

Nr. 2 des § 329 Abs. 1 StPO-E sieht ebenfalls eine Verwerfung u.a. vor, wenn der Angeklagte sich ohne genügende Entschuldigung entfernt hat. Wenn ich das richtig sehe, ist das eine nachteilige Veränderung gegenüber der geltenden Rechtslage.

Entfernt sich der zunächst erschienene Angeklagte nachträglich eigenmächtig, so stellt dies - und jetzt zitiere ich wieder aus der Begründung zum Gesetzentwurf - "…künftig bei einer von ihm eingelegten Berufung auch keinen Anwendungsfall von § 231 Absatz 2 StPO mehr dar, nach dem eine Verurteilung in der Sache selbst in Abwesenheit des Angeklagten ergehen darf, wenn dieser "über die Anklage schon vernommen war und das Gericht seine fernere Anwesenheit nicht für erforderlich erachtet" oder andernfalls ein Fortsetzungstermin anberaumt werden muss, bei dem die Teilnahme eines unter Umständen nicht mehr rechtsmittelinteressierten Angeklagten mit Zwangsmitteln herbeigeführt werden müsste. Hier ist künftig zu verwerfen".

Eine solche Schlechterstellung lehnen wir ab! Außerdem erscheint es doch sehr merkwürdig, in einem Gesetzentwurf, der auf Grundlage des EGMR-Urteils die Angeklagtenrechte stärken will und dies in einigen Fällen auch tut - sie gleichzeitig durch die Hintertür zu schwächen.

Auch bezüglich § 329 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzesvorschlags ergeben sich einige Schwierigkeiten. Danach ist die Berufung zu verwerfen, wenn sich "der Angeklagte vorsätzlich und schuldhaft in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt hat und kein Verteidiger mit schriftlicher Vertretungsvollmacht anwesend ist". Dies ist eine dem § 231a Absatz 1 Satz 1 StPO geltende Fassung nachgebildete Fallkonstellation. Anders jedoch als bei § 231a StPO soll es hier nach dem Entwurf allerdings unerheblich sein, ob der Angeklagte wusste, dass er dadurch gegebenenfalls die ordnungsgemäße Fortsetzung der Verhandlung verhindert. Sie begründen dies damit, dass er bereits zu einem früheren Zeitpunkt, in dem er noch verhandlungsfähig, über die entsprechenden rechtlichen Folgen des § 329 StPO-E in der Rechtmittelbelehrung nach § 35a Satz 2 StPO hingewiesen worden sein muss. Warum dies ein Grund für eine Abweichung im Verhältnis zu § 231a StPO sein soll erschließt sich nicht.

Eine weitere Abweichung zu § 231a StPO ist, dass die Verhandlung dann NICHT trotzdem in Abwesenheit des Angeklagten fortgesetzt oder durchgeführt, sondern verworfen wird.

Sicherlich ist es eine berechtigte Frage, wie der Rechtsstaat damit umgehen soll, wenn sich jemand zielgerichtet in einen verhandlungsunfähigen Zustand versetzt. Ob dies dann gleich die Verwerfung der Berufungsverhandlung zur Folge haben sollte ist zweifelhaft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen. Sie haben kürzlich einige Änderungen an diesem Gesetz vorgeschlagen, die überwiegend gut waren. Deshalb haben wir ihnen im Rechtsausschuss zugestimmt.

Warum Sie allerdings die genannten Schwierigkeiten, die sich aus dem § 329 Absatz 1, Nr. 1-3 StPO-E ergeben, damit nicht gleich mit ausgeräumt haben, verstehe ich nicht. Bereits zur ersten Lesung hatte auch ich diese Problempunkte genannt. Es wäre durchaus möglich gewesen, in diesen Fallkonstellationen mildere Mittel als die Verwerfung vorzusehen.

Insbesondere die oben angesprochene Schlechterstellung im Vergleich zur geltenden Rechtslage hätten Sie rückgängig machen müssen und können.

Bei allem guten Willen und trotz der tatsächlich zu erwartenden Verbesserungen der Angeklagtenrechte in der Berufungsverhandlung, können wir daher leider nur mit "Enthaltung" zu diesem Gesetz stimmen.