Wahlkampf 2013

Der Majestätsbeleidigungsparagraf ist nicht nur entbehrlich, sondern auch gefährlich

12.05.2016: Die Rede von Hans-Christian Ströbele zum Entwurf der Grünen zur Streichung des §103 StGB im Bundestag.


Den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches zur Streichung des Majestätsbeleidigungsparagrafen §103 StGB lesen Sie Hier.

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, mit dem wir die Streichung des § 103 des Strafgesetzbuches erreichen wollen, und zwar nicht erst in der nächsten Legislaturperiode, sondern jetzt, und zwar sofort mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt. Wir brauchen in Deutschland keinen Strafrechtsschutz gegen Majestätsbeleidigung. Der Majestätsbeleidigungsparagraph passt nicht mehr in unsere Gesellschaft. Er ist auch nach Auffassung der Kanzlerin entbehrlich. Ich sage: Er ist nicht nur entbehrlich, sondern er ist auch gefährlich, weil die Kommentatoren immer wieder zu diesem Paragraphen geschrieben haben: Er verführt dazu, dass Despoten mithilfe dieses Paragraphen versuchen zu verhindern, Kritik an ihren Fehlhandlungen öffentlich werden zu lassen. Das war schon immer eine Gefahr, und dieser wollen wir vorbeugen.

Wir brauchen einen solchen Schutz auch nicht; denn auch Majestäten sind Menschen, und alle Menschen sind durch § 185 Strafgesetzbuch vor Beleidigungen geschützt. Wir müssen hier also keine Unterschiede machen, schon gar nicht in einer demokratischen Gesellschaft, in der es ja eigentlich gar keine Majestäten mehr geben soll. Wenn man die Zeitungen liest und die Kanzlerin im Fernsehen erlebt, dann weiß man, dass eigentlich alle dafür sind, diese Vorschrift abzuschaffen.

Man fragt sich: Wo ist eigentlich das Problem? Ich habe heute Morgen im Fernsehen gesehen, dass Sie noch ein Problem haben und das Außenministerium einbeziehen wollen. Aber die Kanzlerin hat schon angekündigt, dass von der Bundesregierung ein entsprechender Gesetzentwurf vorgelegt wird. Ich nehme an, das hat sie mit Ihnen abgesprochen. Der Bundesjustizminister hat auch schon einen Entwurf fertiggestellt. Er liegt also vor. Da sich hier alle einig sind, frage ich: Woran liegt es, dass das nicht ganz schnell verabschiedet werden kann? Ich sage: Das Problem ist die Majestät Erdogan, die ein nachhaltig gestörtes Verhältnis zur Pressefreiheit, zur Meinungsfreiheit und zur Kunstfreiheit hat, und das Problem ist die Kanzlerin, die versucht, diesem Herrn Erdogan, dieser Majestät, alles recht zu machen. Daraus ist das Problem entstanden, mit dem wir uns heute hier zu beschäftigen haben. Die Kanzlerin hat am 15. April 2016 im Fernsehen eine Erklärung abgegeben, in der sie erklärt hat - das ist, glaube ich, einmalig in der Geschichte -, dass sie die Staatsanwaltschaft ermächtigt, auf den Strafantrag des Herrn Erdogan hin ein Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Herrn Böhmermann zu eröffnen. Gleichzeitig, im gleichen Atemzug - zwei Sätze später -, sagt sie: Aber diese Vorschrift wollen wir abschaffen. Das soll allerdings erst im Jahr 2018 in Kraft treten, also in der nächsten Legislaturperiode. Ich glaube, einen solchen Vorgang hat es noch nicht gegeben. Ich habe einen solchen jedenfalls noch nicht miterlebt.

Jetzt kommt das Nächste: Die Kanzlerin sagt: Wir machen das ja nur, weil wir uns in die Justiz nicht einmischen wollen. Die Justiz soll natürlich darüber entscheiden, ob hier ein Straftatbestand gegeben ist und ob man bestrafen soll. Das ist ja richtig. Nur, darum geht es überhaupt nicht. Die Justiz wird sich mit diesem Fall ohnehin beschäftigen und klären, ob das, was Herr Böhmermann gemacht hat, eine Beleidigung war oder ob es dafür Rechtfertigungsgründe - Pressefreiheit, Kunstfreiheit, Meinungsfreiheit - gibt. Das wird die Justiz ohnehin prüfen. Hier ging es um eine politische Entscheidung der Kanzlerin: Gibt sie die Ermächtigung? Es ist nur in ganz wenigen Vorschriften des Strafgesetzbuches vorgesehen, dass die Bundesregierung eine Ermächtigung geben muss. Dabei wird sie sich natürlich nach politischen Überlegungen richten. Das Schlimmste daran ist aber, dass die Kanzlerin nicht sagt, worum es eigentlich geht. Die Verlogenheit dieser Politik führt zu Unzufriedenheit überall in der Gesellschaft. Sie sagt nicht, dass es darum geht, dass sie Herrn Erdogan besuchen und das Klima und die Stimmung dafür vorbereiten wollte und dass sie ihm recht gibt und sagt: Das wird jetzt hier in Deutschland verfolgt; ich haben die Ermächtigung erteilt.

Dieser Kotau vor der Stimmungslage von Herrn Erdogan, dieser Majestät oder dieses Sultans, ist der eigentliche Grund. Das darf deutsche Politik nicht bestimmen.

Es darf auch nicht bestimmen, ob ein Strafverfahren durchgeführt werden muss. Das sind keine politischen Überlegungen. Die Kanzlerin weigert sich, hier im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit die eigentlichen Gründe zur Diskussion zu stellen. Man kann ja darüber diskutieren: Was tun wir alles für ein gutes Verhältnis zur Türkei? Was tun wir nicht? Wo ist da die Grenze? - Aber sie kann nicht drumherum reden. Wir verlangen von ihr, dass sie sagt, warum sie so entschieden hat, und dass sie diese ihre Auffassung hier zur Diskussion stellt. Der langen Rede kurzer Sinn: Da alle dafür sind, laden wir Sie ein, für unseren Gesetzesentwurf zu stimmen. Sie können auch - wir sind da ganz flexibel - eigene Zusätze vorlegen. Dagegen haben wir gar nichts. Wir wollen nur, dass das Inkrafttreten dieser Streichung nicht erst in die nächste Legislaturperiode verschoben wird - wer weiß, was dann ist -, sondern wir wollen sie vom Fall Böhmermann abtrennen.

Dann sind Sie auch die ganzen Probleme mit Herrn Erdogan los, weil in dem Augenblick das Verfahren gegen Herrn Böhmermann nicht mehr durchgeführt werden kann.