Wahlkampf 2013

Hans-Christian Ströbeles Rede in der Aktuellen Stunde zu Maßnahmen nach dem Anschlag am Breitscheidplatz

19.01.2017: "Die Opfer verdienen jede Art von Hilfe und Unterstützung. Diese müssen wir ihnen zusichern. Was uns hier alle mit den Opfern eint, sind die Fragen: Wie konnte das mitten in Deutschland, mitten in Berlin, an diesem Platz geschehen? Wie können wir verhindern, dass so etwas wieder geschieht?"

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Herr Präsident. - Richtig ist, dass die Opfer von uns Solidarität erwarten, und diese bekommen sie, glaube ich, von uns allen. Was sie aber auch erwarten in der schrecklichen Situation, in der sich heute noch viele befinden, ist jede Art von Hilfe und Unterstützung. Diese müssen wir ihnen zusichern. Was uns hier alle mit den Opfern eint - da nehme ich erst einmal gar keinen aus, auch die Minister nicht -, sind die Fragen: Wie konnte das mitten in Deutschland, mitten in Berlin, an diesem Platz geschehen? Wie ist das zu erklären? Wie können wir verhindern, dass so etwas wieder geschieht?

Da muss man doch als Allererstes untersuchen: Was ist falsch gemacht worden? Herr de Maizière, Sie sind gleich danach mit Vorschlägen gekommen, welche Gesetze man nun ändern solle, dass man überlegen solle, den Verfassungsschutz zusammenzulegen - alles, was schon vor 20 Jahren gefordert worden ist. Aber zu der Frage: "Wie konnte das geschehen?" ist der einzige Vorschlag, den ich von einem Minister der amtierenden Bundesregierung gehört habe: Wir brauchen einen Untersuchungsausschuss des Parlaments. - Ist es nicht erst einmal Ihre Aufgabe, in Ihrem Amt, in Ihrer Behörde, die ja eine maßgebliche Rolle gespielt hat, nachzuforschen, was bei uns schiefgelaufen ist? Das erwarten wir von Ihnen.

Ich werde einmal ganz konkret. Die Bombe hat seit dem 19. September 2016 getickt. Genau drei Monate vor dem schrecklichen Anschlag gab es eine Meldung vom marokkanischen Geheimdienst, in einer Situation, in der die Beobachtung von Amri eingestellt worden ist, weil man gesagt hat: Eine konkrete Gefahr gibt es nicht. - Wissen Sie, was in dieser Meldung - das steht auch in Ihrer Zusammenstellung - stand? Darin stand erstens: Er ist ein Gefährder. - Das wussten wir schon. Darin stand aber zweitens - das war neu, das findet sich in all den anderen Meldungen früher nicht -: Er will nach Syrien, zum IS - was macht er da wohl? -, oder nach Libyen, zum IS. Was macht er da wohl? Allein dieses Bestreben ist inzwischen hier in Deutschland eine schwere Straftat. Darin stand als Drittes: Er hasst Deutschland, er ist der Auffassung, Deutschland ist das Land der Ungläubigen, und Deutschland erpresst seine Brüder. Zuletzt steht da noch, am 19. September 2016: Herr Amri führt ein Projekt aus, über das er nicht näher reden will. Dann kam im Oktober, am 10. oder am 13. Oktober, erneut diese Meldung aus Marokko, und dann hat sich das GTAZ damit beschäftigt. Was haben sie gesagt? Sie haben das ernst genommen. Sie haben zwar gesagt, wir sehen immer noch keine Gefährdung. Aber sie haben an Ihr Amt, an das Bundesamt für Verfassungsschutz, den Auftrag übergeben: Überprüft bei dem marokkanischen Partnerdienst die übermittelten Erkenntnisse und teilt sie uns mit. Was ist daraufhin geschehen? Bis heute offenbar nichts. Nichts, Herr Minister! Fragen Sie sie doch mal. Es ist nichts geschehen. Sie sind einfach Ihrer Aufgabe nicht nachgekommen. Das war am 2. November 2016, also gut sechs Wochen vor dem Anschlag. Sie hätten genügend Zeit gehabt, nach Marokko zu fahren und das zu klären. Es ist nichts geschehen. Da sage ich Ihnen: Da gibt es ein Verschulden, da gibt es ein Verschulden Ihrer Behörde, und da gibt es auch ein Verschulden der Aufsicht Ihrer Behörde.

Das nächste Beispiel ist vorhin schon angesprochen worden. Es wird immer wieder gesagt: Wir konnten ihn ja nach Tunis nicht loswerden, die dort Zuständigen reagieren ja nicht. Das stimmt nicht. Am 24. Oktober - das war fast zwei Monate vor dem Anschlag - kam aus Tunesien die Mitteilung, wir haben anhand der Indizien festgestellt, er ist tunesischer Staatsbürger, und man hat sogar Passdaten übermittelt. Warum hat sich da nicht einer von Ihrer Behörde das Papier mit dieser Nachricht in die Tasche gesteckt, ist sofort zur Botschaft gefahren und hat gesagt, wir wollen jetzt in drei Stunden oder meinetwegen in drei Tagen die Papiere von ihm haben, damit wir ihn abschieben können? Die Voraussetzung für eine Inhaftierung innerhalb von drei Monaten lag mit Sicherheit zu diesem Zeitpunkt vor. Sie haben es nicht gemacht.

Ich muss leider zum Ende kommen. Ich könnte noch weiter fortfahren; ich habe noch ein paar solche interessanten Details, zum Beispiel die Strafverfahren. Gegen ihn bestanden ein halbes Dutzend schwerer Strafvorwürfe. Die Ermittlungsverfahren sind nicht geführt worden. Wir wissen bis heute noch nicht, unter welchen Aliasnamen er wo überall Geld kassiert bzw. Sozialunterstützung bekommen hat. Diese Frage ist bis heute nicht beantwortet. Das haben sie auch damals nicht versucht herauszubekommen, sondern sie haben ein halbes Dutzend Ermittlungsverfahren eingestellt, obwohl die Möglichkeit bestanden hätte, Strafverfahren einzuleiten, einen Haftbefehl zu beantragen. Ich garantiere Ihnen, der Haftbefehl wäre ausgestellt worden, ein strafrechtlicher Haftbefehl wäre ausgestellt worden. Auch dies zu verfolgen, haben sie versäumt. Ich sage: Herr Maaßen, der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, und Herr de Maizière müssen die Verantwortung übernehmen. Ich fordere Sie auf, das zu tun, Herr Minister.