Wahlkampf 2013

Rede von Ströbele im Deutschen Bundestag zur StPO-Reform

09.03.2017: Rede von Hans-Christian Ströbele im Deutschen Bundestag zur Ersten Beratung eine Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens. Schauen und lesen Sie hier die ganze Rede:

Frau Präsidentin!

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich vermisse hier den Justizminister. Ja, aber man hätte den Minister angesichts dieses großen Projektes, bei dem es um eine große Strafverfahrensnovellierung geht, hier vielleicht erwarten können. Ich hätte ihn auch gerne einmal gefragt, ob er das, was er angekündigt hat, wirklich gemeint hat. Denn das kann ja wohl nicht wahr sein.

Das, was hier neu sein soll - das hat Herr Lange vorhin hier dargestellt -, wird ganz überwiegend schon seit den 70er-Jahren praktiziert. Dass bei Großverfahren eine Vorbesprechung mit dem Vorsitzenden Richter stattfindet, war immer so. Ich kann mich an keinen Großprozess erinnern - ich war bei vielen dabei -, bei denen das nicht gemacht worden ist.

Oder das Erklärungsrecht des Verteidigers im Strafprozess. Ich habe als Verteidiger viele Erklärungen abgegeben. Ich habe es nicht einmal erlebt, dass jemand dagegen auch nur Bedenken dagegen geäußert hätte. Auch die Fristsetzung bei Beweisanträgen am Ende der Beweisaufnahme ist das übliche Verfahren. Wenn das Gericht mit seinem Pensum fertig ist, dann wird gefragt: Welche Anträge werden von der Verteidigung noch gestellt? - Dann werden sie gestellt, und dann werden sie entschieden. Auch das ist normal. Nehmen wir einmal an, aus einem Antrag ergibt sich ein wichtiger Beweisantrag und die Entscheidung darüber wird in das Urteil verlagert. Wenn der Beweisantrag im Urteil zu Unrecht abgelehnt wird, dann hat das möglicherweise zur Folge, dass der Prozess von vorne begonnen werden muss. Es ist besser, im Prozess wird über Anträge mit Rede und Gegenrede entschieden, ohne das Ganze zu vertagen. Was übrig geblieben ist, ist ein ganz kleiner Ansatz für eine audiovisuelle Aufzeichnung im Vorverfahren oder für Gerichtsverfahren selber. In der Tat verlaufen Strafprozesse in Deutschland wie vor 100 Jahren. Da sitzt bei nicht so schwerwiegenden Fällen der Amtsrichter, möglicherweise mit Schöffen, im Gerichtssaal. Dieser schreibt möglichst mit, was die Zeugen oder der oder die Angeklagte äußern. Die Protokollführerin oder der Protokollführer, der Staatsanwalt und auch der Verteidiger schreiben mit und bemühen sich dabei, das festzuhalten, was tatsächlich gesagt worden ist. Wenn man sich das nachher einmal durchliest, dann stellt man fest: Das hat mit dem, was wirklich gesagt worden ist, häufig nur ganz am Rande zu tun. Jeder hat etwas anderes aufgeschrieben.

Warum kann man in einem modernen Staat, in dem es einfache Möglichkeiten gibt, Vernehmungen und Befragungen aufzuzeichnen, kein Tonband mitlaufen zu lassen? Jetzt sage ich schon "Tonband", diese sind ja ebenfalls veraltet. Ich meine natürlich einen Tonträger, auf den alles aufgezeichnet wird und mit dessen Hilfe man feststellen kann, vielleicht kurz vor oder in der Urteilsberatung, was tatsächlich gesagt worden ist. Genauso ist es natürlich bei großen Prozessen. Manche Prozesse dauern Monate oder Jahre. Am Ende des Prozesses soll man noch wissen, was an einem Tag von einem Zeugen gesagt oder einem anderen Zeugen nicht gesagt worden ist. Das könnte man dann mit einer Aufzeichnung nachprüfen. Die große Expertenkommission, die das Justizministerium eingesetzt hat, hat dazu Empfehlungen gegeben. Was ist davon übrig geblieben? Über die Möglichkeit, in der Hauptverhandlung eine Aufzeichnung einzuführen, wird nichts ausgesagt. Das kommt in dem Gesetzentwurf überhaupt nicht vor. Ausgesagt wird lediglich etwas über die Vernehmung des Beschuldigten. Da kann - ich betone: kann - dieses Verfahren angewandt werden. Zwingend ist das aber nur bei Verfahren - Herr Lange, Sie haben von einer "großen Entlastung" gesprochen - bei einer einzigen Straftat: Es muss sich um ein Tötungsdelikt handeln. Wie viele Verfahren von den Strafverfahren in Deutschland betreffen ein Tötungsdelikt? Ich schätze diese Zahl auf weit unter 1 Prozent.

Sie schaffen hier eine Regelung, die an anderer Stelle dringend erforderlich wäre. Im Vorverfahren sollten Zeugenvernehmungen zumindest auf Tonträger aufgenommen werden, damit am Ende der Hauptverhandlung mit Beweis und Gegenbeweis, nach der Anhörung von neuen Zeugen und den Aussagen von Wachtmeistern und Kriminalbeamten nicht gefragt wird: Was hat der Zeuge im Vorverfahren, was hat der Beschuldigte gleich nach seiner Festnahme in der ersten Vernehmung wirklich gesagt? Das, was der Kriminalbeamte mühsam in seine Schreibmaschine hackt, ist meistens nicht das, was tatsächlich gesagt worden ist. Da kann man viel schreiben. An diesem Punkt hätten Sie wirklich zu einer Entlastung des Verfahrens beitragen können. Das haben Sie nicht gemacht, weil Sie sich nicht einigen konnten. Natürlich gab es dazu in der Expertenkommission sehr unterschiedliche Auffassungen. Ich selbst habe an einem Strafverteidigertag teilgenommen, bei dem dafür eine eigene Arbeitsgruppe eingesetzt wurde, um diese Frage zu diskutieren. Da bestand unisono die Auffassung, und zwar von Richtern, von anwesenden Staatsanwälten und von Rechtsanwälten, dass man eine Aufzeichnung ganz dringend braucht.

Lassen Sie uns einen Strafprozess mit modernen Mitteln gestalten, auch mit modernen Kommunikationsmitteln. Der Federkiel ist längst beseitigt; heute ist es der Kugelschreiber. Lassen Sie ihn uns in möglichst vielen Fällen durch elektronische Aufnahmen ersetzen. Dann haben die übrigen Prozessbeteiligten genügend Möglichkeiten und Fähigkeiten, die sie ausleben können, ein Verfahren wirklich mitzuerleben und zur Wahrheitsfindung das Mögliche beizutragen, und müssen sich nicht mit ihrer Schrift herumärgern.

Es gibt viele Möglichkeiten. Machen Sie Gebrauch davon! Eine Renovierung des gesamten Strafverfahrensrechts ist dringend erforderlich. Dieser Gesetzentwurf leistet das überhaupt nicht.