Wahlkampf 2013

Die Ich-AG auf Kneipentour

08.08.2002: Artikel in der Frankfurter Rundschau zum Wahlkampf Christian Ströbeles

  
 

Das berühmte Seyfried-Plakat

Die Ich-AG auf Kneipentour

Christian Ströbele kämpft in Kreuzberg für sich allein, für ein Direktmandat - und mitunter gegen seine grüne Partei

Von Vera Gaserow (Berlin)

Die aktuelle Marktanalyse verspricht maximalen politischen Ertrag: Außentemperatur - sonnige 25 Grad, Auslastungsfrequenz der Kreuzberger Straßencafés - 90 Prozent, Grünflächennutzung des Stadtparks - an der 100-Prozent-Marge. Macht bei dreistündigem Arbeitseinsatz einen Erreichbarkeitsquotienten von 1500 Menschen. In Zeiten der Ich-AGs ein durchkalkuliertes Konzept. Meteorologie mal Faltblätter mal ausstehende Tage bis zum 22. September. Macht 50 000 potenzielle Wähler. Das dürfte reichen für das Unternehmensziel, das da heißt: Direktmandat Deutscher Bundestag. Gäbe es da nicht unwägbare Gewinneinbrüche im Berliner Osten, der Aktienkurs der Ich-AG Hans-Christian Ströbele stünde blendend.

Das Arbeitsgebiet des Unternehmens umreißt die grüne Abgeordneten-Homepage mit: "Kreuzberg und die weite Welt". Ersteres ist derzeit durchaus wörtlich zu nehmen. Arbeitsbeginn ist gegen 19 Uhr, Schichtende bei Einbruch der Dunkelheit. In Kreuzberger Freiluftkneipen lässt sich mittlerweile die Uhr danach stellen. Wo immer weit gefächertes Szenevolk laue Sommerabende genießt, spätestens beim Rucola-Salat oder beim zweiten Bier tritt ein Mann mit weißem Schopf an den Tisch, legt ein wenig linkisch ein Faltblatt neben den Teller, wünscht "Guten Appetit" und ist "Hallo, ich bin Christian Ströbele, Ihr Direktkandidat für die Bundestagswahl" schon ein Café weiter.

Das soll bis zum Wahltag so gehen, Abend für Abend. "Eine ganz andere Art von Wahlkampf" nennt der grüne Noch-Abgeordnete das. Wenn das Wetter mitspielt, wird er mit seinen Kneipentouren 50 000 Wähler persönlich erreicht haben. Die müssten ihm dann nur noch ihre Erststimme geben. Dann wäre das Unwahrscheinliche erreicht, was in der Geschichte der Grünen nicht einmal ein Joschka Fischer geschafft hat: der Einzug in den Bundestag über ein grünes Direktmandat. Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung ein aussichtsloses Unterfangen.

"Ich habe", "ich bin", "ich setze mich ein" - vier Seiten "Ich" auf Tausenden von Faltblättern, die der linke Vorkämpfer der Grünen derzeit an Theken und Kneipentischen verteilt. Ströbele als Kriegsgegner im Bundestag, Ströbele als Aufklärer im Spendenuntersuchungsausschuss, Ströbele als Globalisierungsgegner in Genua, Ströbele als Tierschützer im afrikanischen Gorillawald. Unter der Rubrik Erststimme wird beim Namen Ströbele ein grünes Kreuz anempfohlen. Was die Wahlentscheidung für die Partei angeht, herrscht freie Auswahl. Wer will, soll das ruhig so verstehen: Selbst wenn ihr nicht grün wählt, gebt dem Kandidaten mit dem roten Schal eure Stimme.

Keine Frage. Der Kampf um den Parlamentssitz ist ein Unternehmen in eigener Sache. Aber er ist auch der Versuch, grüne Geschichte rückwärts zu buchstabieren. Das Kunststück lautet: mit einer Minderheitsposition um Mehrheiten werben.

Gestern linksbürgerliche Kneipenszene am Kreuzberger Landwehrkanal, heute tiefstes SO 36 am Görlitzer Park. Das "Arbeitsgebiet Kreuzberg" will beackert sein, auch da, wo grünes Stammpotenzial eher abtrünnig schillert. "Wer bisher nicht grün gewählt hat, den werde ich nicht überzeugen. Entscheidend ist, dass ich den Leuten zeige: Der Mann, den ihr aus dem Fernsehen kennt, der kandidiert in eurem Wahlkreis", lautet Ströbeles Philosophie für seinen Zug durch die Kreuzberger Gastronomie.

Der junge Wahlhelfer hat auf den abendlichen Touren schon einige Pfunde verloren, der 63-jährige Kandidat selbst sich einen Arm gebrochen. Kollateralschäden in einem Kampf, in dem es um politische Zukunft oder Vergangenheit geht und um die Annullierung von persönlichen Niederlagen. Die jüngste musste der linke Frontmann Anfang des Jahres einstecken. Da haben ihn seine Berliner Grünen rüde vom sicheren Listenplatz für den Bundestag gekegelt. Für Christian Ströbele, sonst eher hornhäutig gegen politische Schlappen, war es eine der bittersten Kränkungen.

War er da hinten schon bei den Kneipengästen? Er war. Das Jungvolk winkt freundliche Erkennungszeichen. Zwischen dem ergrauten Grünen und seiner Zielgruppe liegen gut vierzig Jahre. Sind die türkischen Mamis im Park schon mit seinen Faltblättern versorgt? Unverhohlenes Kichern unter muslimischen Kopftüchern ob des werbenden Herrn und Rätselraten, was wohl das Wort "Erststimme" bedeuten könnte. So geht's, wenn die "Arbeitsgebiete Kreuzberg und weite Welt" unversehens zusammenfallen. Fehlt noch die Kifferrunde mit den kläffenden Kötern.

Bis zum Wahltag haben die garantiert alles vergessen. Im Gegensatz zum Volk an den gedeckten Restauranttischen. "Guten Abend, ich bin Ihr . . ." Wär' nicht nötig gewesen. Kaum einer, der den Mann nicht erkennt auf seiner Runde. "Hey, Ströbele, wie geht's?" - "Hab dich neulich im Fernsehen gesehen." - "Dich wähl' ich doch sowieso." - "Nur schade, dass du bei den Grünen bist." - "Wir drücken die Daumen", "alles Gute" und "vielen Dank auch, Herr Ströbele". Müsste der Kandidat nicht auch manch irdischem Hundehaufen ausweichen, er könnte als "Liebling Kreuzberg" auf einer Wolke von Zuspruch schweben.

Aus alkoholisierter Runde wird kämpferisch die Faust gereckt. "Zeig's deinen Grünen, Ströbele." Ein afrikanischer Trommler hebt an zu einer Liebeserklärung. "Hey Chef, immer wenn du im Fernsehen bist, ist für mich tolles Programm. Danke, dass du zu uns gekommen bist." Ein Teenie-Mädchen steckt brav das Ströbele-Konterfei in die Tasche - "für meine Mutter, die findet den attraktiv". Politik kann schön sein - wenn Kreuzberg der Nabel der Welt und die Welt ein einziges links-alternatives Bierzelt ist.

Ist sie aber nicht. Nicht umsonst hat Ströbele nach der Schlappe beim Listenplatz lange überlegt, ob er den fast aussichtslosen Kampf um ein Direktmandat wirklich aufnehmen soll. Bei der vorigen Bundestagswahl hat er ihn gegen den SPD-Konkurrenten verloren. Da hat er in der grünen Hochburg Schöneberg-Kreuzberg immerhin ein Rekordergebnis von 29 Prozent geholt. Dieses Mal müsste er noch einige Prozentpunkte zulegen und das unter erschwerten Bedingungen. Der Wahlbezirk wurde neu zugeschnitten, und der sicheren grünen Bank Kreuzberg wurden die Ostbezirke Friedrichshain und Prenzlauer-Berg-Ost zugeschlagen. Kein Heimspiel für einen Grünen, den die PDS genüsslich als Mitglied einer "Kriegspartei" vorführen lässt. Doch auch die Konkurrenz von der SPD wird im Osten Federn lassen. Im Gegenzug wird die schlagfertige Spitzenfrau der PDS kaum einen Stich im Westbezirk bekommen gegen einen grünen Kandidaten mit bundesweitem Bekanntheitsbonus. Ein System von kommunizierenden Röhren also, Ausgang offen.

"Mein Problem", meint Ströbele, "sind nicht die PDS-Wähler. Mein Problem sind diejenigen, die sagen, ,die Grünen haben uns verraten, also wählen wir Sozialdemokraten'." Der Kampf ums grüne Direktmandat ist deshalb nicht nur eine Suche nach dem verlorenen Wähler, sondern auch eine nach persönlicher Genugtuung. "Ich will's einfach wissen", antwortet der Weißhaarige auf die Frage, warum sich ein 63-Jähriger noch abendliche Tingeleien durch Kneipen antun muss. Ein Sturkopf will wissen, wovon er längst überzeugt ist. Jetzt muss er nur noch Beweise sammeln. Er findet sie an Kreuzberger Caféhaustischen: "Hey Ströbele, dich wählen wir, aber die Grünen kannste vergessen" oder "Zeig's ihnen, den Grünen." Wenn er es wirklich schafft mit dem Direktmandat, sagt Ströbele, "dann hab ich gezeigt, was grüne Politik ist, nämlich links. Es wäre der Beweis, dass ich überhaupt nicht so isoliert bin, wie es immer aussieht."

Und wie zum Beleg beginnt sich die Berliner Szene zu einem überdimensionalen Familienfoto um den Altvorderen zu sammeln. Der grüne Kreisverband Kreuzberg will zu Hochform auflaufen, eine parteiübergreifende Wählerinitiative aus Grünen, PDS-Sympathisanten und SPD-Mitgliedern hat "wegen der problematischen Entwicklungen bei den Bündnisgrünen" die Kampagne "Erststimme für Christian Ströbele" gestartet. Universitätsprofessoren, Anwälte, Intellektuelle wollen "so einen linken Querkopf wie Ströbele einfach weiter im Bundestag sehen" und spenden für einen grünen Personenwahlkampf von bisher ungeahntem Ausmaß. 100 000 Ströbele-Briefe an die Wählerschaft, Plakate mit Konterfei des Kandidaten, "Erststimme Ströbele" auf mannshohen U-Bahn-Plakaten. Und demnächst womöglich auf Hausfassaden. Fast trotzig scheint die Berliner Linke noch einmal zur Rückmeldung entschlossen. Selbst Kultkarikaturist Seyfried taucht eigens aus der Versenkung auf mit einem Ströbele-Plakat aus längst archivierten Kreuzberger Zeiten. Die Figuren auf dem Poster rühren etwa so peinlich an wie ein Blick in 70er-Jahre-Fotoalben. Das Plakat findet reißenden Absatz. Dass Ströbele, der standhafte Bannerträger des roten Fähnchens, den Sprung ins Parlament schafft, wird zur Ehrensache.

Der Kandidat stellt schon vorab Tributforderungen an seine Partei. "Wenn ich es wirklich schaffe, dann werde ich bei den Grünen mehr Gewicht für meine Positionen einklagen." Auf Seyfrieds Comic-Poster lässt er den Ströbele-Fanclub schon mal Transparente schwingen: "Ströbele wählen heißt Fischer quälen." Das liest sich selbst als Comic nur bedingt lustig.