Wahlkampf 2013

Aufrecht bleiben fällt im Gegenwind leichter

28.02.2002: Tagesspiegel-Artikel zur Aufstellung der Berliner Landesliste für die Bundestagswahl 2002

Aufrecht bleiben fällt im Gegenwind leichter

Der Parteilinke Hans-Christian Ströbele will auch nach der Niederlage bei der Nominierung der grünen Kandidaten für den Bundestag weiterkämpfen

Von Christine-Felice Röhrs, der Tagesspiegel

Grau draußen, grau drinnen, und das Licht hat Hans-Christian Ströbele auch nicht angemacht. Als wir an die Tür klopfen, steht er über einen Umzugskarton gebeugt, seinen roten Schal hat er fest um den Rolli gewickelt. Am Wochenende habe er sich erkältet, sagt er heiser. "Das kann ich mir ja auch nur am Wochenende leisten." Ein schiefes Lächeln. Nach wie vor, obwohl ihm die Partei per Abstimmung den Einzug in den Bundestag verweigert hat, arbeitet der Frontmann der linken Grünen 14 Stunden am Tag: in vier Ausschüssen, im Partei-Kontroll-Gremium zum NPD-Verbot, im Wahlkreis Kreuzberg. Und alle Stunde ruft ein Journalist an und will was wissen über die Haltung des antimilitaristischsten aller Grünen über Afghanistan oder das NPD-Verbot.

Wir sind die Ersten heute, die was anderes wissen wollen. Was Persönliches nämlich: Wie soll's jetzt weitergehen mit dem Warner Ströbele ohne die Bühne Bundestag? Welche Pläne hat er? Und: Wie geht's einem, dem sie in der eigenen Partei ins Gesicht gesagt haben: Du bist ein Relikt. Wir denken nicht mehr, was du denkst.

Am 20. Januar war das, im kahlen Dachgeschoss einer alten AEG-Werkshalle in Wedding. Die Berliner Grünen stimmten ab über die, die sie im Bundestag sehen wollten. Weil das Parlament verkleinert wird, galten nur noch die ersten beiden Listenplätze als sicher. Um den zweiten stritten sich zuletzt Werner Schulz, Ostler und Bürgerrechtler. Und Hans-Christian Ströbele, Parteilinker und Antimilitarist. Die Abstimmung ergab: 300 Stimmen für Ströbele. 398 für Schulz. Minutenlang saß Ströbele da wie betäubt.

Im Krebsgang quetschen wir uns an den Kartons vorbei. Nach Abschied sieht der Raum aus. Staubbällchen liegen unterm Tisch und ein trockenes Käsebrötchen oben drauf. Nein, ein Umzug in den Ruhestand werde das noch nicht, meint Ströbele. Natürlich nicht! Es geht doch nur vom ollen Abgeordnetenhaus an der Luisenstraße ins schicke neue Jakob-Kaiser-Haus.

"Also, das mit dem Relikt, so stimmt das ja nicht". Ströbele versucht, es sachlich zu sehen, dass ihm die Kollegen die Unterstützung entzogen haben. Er ist ja für Rotation. Er findet ja auch, dass der Osten, für den der Kollege Schulz steht, ein wichtiges Thema ist. Er tut einfach so, als sei es wie immer, wenn er mit der Partei mal wieder nicht zufrieden ist: "Ich versuche, mich zu zügeln und es nicht persönlich zu nehmen." Obwohl er weiß: Einige Stimmen für Schulz waren welche gegen Ströbele.

Wer vor der Abstimmung mit ihm geredet hat, sagt: Ströbele hat eigentlich nicht damit gerechnet, zu verlieren. Aber schon während seiner Rede müssen ihm Zweifel gekommen sein. "Es war schon mitreißend, was Werner Schulz da vorgelegt hat", sagt Ströbele jetzt. Und er selbst, tja, er sei "nicht so auf die Wellenlänge gekommen". Im Nachhinein ist es bloß Spekulation, wie viele Stimmen ihn die mangelnde Tagesform gekostet hat, das Ergebnis war auch so eindeutig genug. "Es war ein Schock", sagt Ströbele.

Nein, gedacht habe er gar nichts zuerst, sagt er und guckt genervt. Alle wollen immer wissen, was er gedacht hat, weil er so dasaß, manche erzählen sogar was von Tränen in den Augen. "Es ist, als wenn einem körperlich etwas zugefügt wird, wie ein Unfall." Ströbele sagt das beiläufig, sagt "man" und nicht "ich". "Es trifft einen ein Schlag, man spürt das und weiß, das könnte das Leben verändern." Aber was das bedeute, das sickere erst so nach und nach durch.

Was das bedeutet: Es könnte das Karriere-Ende sein. Immerhin ist Ströbele ja mittlerweile 62 Jahre alt. Klar: Die Frage, ob er "diesen Schlauch" noch mitmachen will, stelle er sich jetzt auch öfter, sagt Ströbele. Zum ersten Mal vor vier Jahren, als er wieder vor der Entscheidung stand: Bundestag oder nicht. Man könnte allerdings sagen: Damals war ein bisschen Ruhestands-Melancholie ja auch ungefährlich. Die Chancen standen gut, die CDU steckte tief im Dreck. Wer diese Chance nicht wahrgenommen hätte, Alter hin oder her, der wäre kein Vollblutpolitiker gewesen. Ströbele war und ist aber einer. Nur jetzt, wo's am natürlichsten wäre, denkt Ströbele nicht über den Ruhestand nach.

So war Ströbele schon immer: Je härter der Gegenwind, desto lieber hat er sich hineingeworfen. Er lächelt schalkhaft: "Eigentlich hab' ich erst nach dem letzten Parteitag entschieden: So, jetzt mach ich's auf jeden Fall. Jetzt will ich's nochmal wissen." Das war der November-Parteitag in Rostock, auf dem sich schon abzeichnete, dass seine Anti- Afghanistan-Kriegs-Postition nur noch von 20 Prozent der Grünen getragen wird.

Ströbele sei von einem unglaublichen Grundoptimismus, meinen Parteifreunde. Manchmal sogar so sehr, sagen sie, dass sie sich fragen: Junge, sieht der eigentlich die Realität richtig? Ströbele: "Ich glaube fest daran, dass meine Positionen bald wieder die Spitze erreichen, und zwar in ganz Deutschland, in Europa überhaupt. Es ist eine Lebenserfahrung von mir, dass alles in Wellen kommt." Grundoptimismus nennen das die einen, Naivität die anderen. Oder kann Ströbele einfach nicht mehr anders? Ströbele, der kein Pazifist ist, wie er betont, hat schon immer gerne Kampfhandlungen provoziert, zumindest verbale. Er hat sie fast zur Masche gemacht, oder? "Naja, Masche ist falsch", meint Ströbele. "Noch eine Lebenserfahrung von mir ist es, dass ich umso mehr rausschlage, je härter ich rangehe." Wie beim Feilschen auf dem Basar. Ist es nicht so, dass er gar nicht so ein "Linienpolizist" ist? Dass er die Kompromisse von Anfang an einkalkuliert? Ja, sagt Ströbele. "Natürlich. Auch wenn es schmerzt."

Der schmerzhafteste aller Kompromisse wäre der Rückzug ins Privatleben. Wüsste er damit was anzufangen? "Na, klar." Es sei ja nicht so, als könne er sich ein Leben ohne Bundestag nicht vorstellen. "Da gibt's Träume", sagt Ströbele, macht aber eine wegwerfende Handbewegung, als rechnet er sowieso nicht damit, dass sie sich bald erfüllen. Das Bauernhaus im Odenwald, das er mit seinem Bruder zusammen geerbt hat, das wäre was. "Wissen Sie eigentlich, dass ich sehr gut mit den Hä nden arbeiten kann? Ich flicke zum Beispiel meine Schuhe selber." Esel und Schafe gibt's da, auf dem Land. Die selber versorgen. Wär schon schön.

Auf eine Weise ist Ströbele konservativ. So wie die Grünen früher waren. Mit Strickpulli in den Bundestag und Schal und einer Vorliebe für Milch. Aber ist das ein Nachteil? Einerseits könnte man sagen: Alle lernen dazu, nur der Ströbele nicht. Andersherum könnte man es auch so sehen: Alle verbiegen sich unter den Erfordernissen einer rot-grünen Koalition, nur der Ströbele bleibt stehen. Welche Positionen könnte so ein Mann in der Politik noch einnehmen? So ein unmoderner, lauter? Zum Beispiel die des Grünen-Kritikers. Des Partei-Gewissens. Das geht auch ohne Amt. Vor dem Kosovo-Krieg war das so. Ströbele von der Partei auf Eis gelegt, aber von den Medien bestürmt. Einer wie er wird im öffentlichen Politik-Diskurs immer eine Rolle spielen.

Am Anfang des Gesprächs hat Ströbele gesagt: "Ich will ja wieder in den Bundestag. Ich versuche das Unmögliche möglich zu machen und ein Direktmandat zu bekommen." Vielleicht ist es ihm nur rausgerutscht. Später, noch einmal darauf angesprochen, sagt er: "Naja, entschieden habe ich das noch nicht. Ich muss ja erst mal schauen, wie erfolgversprechend das ist." So schiebt Ströbele die Entscheidung also auf. Theoretisch müssen die Landeslisten und Direktkandidaturen erst am 18. Juli eingereicht werden.

Erstmal will sich Ströbele nach Verbündeten umschauen. In einem Leitz-Ordner sammelt er die Briefe jener, die sagen, lass dich nicht unterkriegen, wir unterstützen dich: " Damit mir die Leute, wenn's ernst wird, später nicht abspringen." Außerdem schaut er sich die Zahlen der letzten Wahlen nochmal an: 1994 hatte er als Direktkandidat in Kreuzberg/Schöneberg mit 28 Prozent ein umwerfendes Ergebnis erzielt, war aber nicht in den Bundestag eingezogen. 1998: wieder 29 Prozent. Diesmal Einzug über den zweiten Platz der Landesliste. Allerdings: Ströbeles Wahlkreis ist mittlerweile um Friedrichshain erweitert worden. Da ist das PDS-Milieu stark, nicht das grüne. Außerdem gibt es durchaus auch Kreuzberger Parteifreunde, die eben nicht möchten, dass der Ströbele einen Bundestagswahlkampf wagt. Denn die Bundespartei, die ihrer Ansicht mit den ursprünglichen Positionen der Grünen nichts mehr zu tun hat, die darf keine einzige Stimme mehr bekommen.

Die zweite Option - über andere Landeslisten einziehen in den Bundestag, in Rheinland-Pfalz zum Beispiel - hat Ströbele schon abgelehnt. Dazu bedeutet ihm Berlin zu viel, sagt er. Und außerdem, das sagt Ströbele aber nicht, wäre es ein bisschen so, als renne er der Macht hinterher. Ein Politiker, der nicht sieht, wann er aufhören muss, das Szenario hat es vor ein paar Tagen in Berlin schon einmal gegeben.

Bleibt: die Anwalt-Option. "Ohne Amt werde ich mir meine Brötchen wieder als Rechtsanwalt verdienen müssen", sagt Hans-Christian Ströbele. Um einen Mandanten, der gerade im Gefängnis sitzt, kümmert er sich jetzt wieder verstärkt. Doch im Herzen, sagt er, sei er Politiker, nicht Anwalt. Und damit ist für den Anwalt auch dieses Thema abgehakt.

Natürlich, noch ist Hans-Christian Ströbele frustriert. Er ist nicht zufrieden mit der Partei. Er wird sich abstrampeln müssen, um - vielleicht - wieder an ein Mandat zu kommen. Und gerade das wird ihn antreiben. Einer hat mal über Ströbele gesagt, dass er sich die Welt immer zu seinen Gunsten umdeutet. Heute sagt derselbe Mann, dass er "bass erstaunt" sei, wie gut es dem gerade Gescheiterten wieder geht. Wir gehen. Ströbele muss weiterpacken. Gerade ruft ein Journalist an, der was wissen will über die NPD. Die Kollegin sagt einen Termin für heute abend in den Raum. Ströbele lacht, lockert den Schal. Für Kranksein ist jetzt keine Zeit. Ströbele? Alles auf Anfang.