Wahlkampf 2013

KRIEG IN AFGHANISTAN

10.11.2001: Positionspapier der Abgeordneten Annelie Buntenbach, Steffi Lemke, Christian Simmert, Winfried Hermann, Monika Knoche, Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele und Sylvia Voß zur Entscheidung, deutsche Truppen nach Afghanistan zu entsenden

KRIEG IN AFGHANISTAN

Positionspapier der Abgeordneten Annelie Buntenbach, Steffi Lemke, Christian Simmert, Winfried Hermann, Monika Knoche, Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele und Sylvia Voß

Der Krieg in Afghanistan dient nach unserer Ansicht nicht der zielgerichteten Bekämpfung terroristischer Strukturen und trifft in besonderem Maße die Zivilbevölkerung. Eine direkte oder indirekte Beteiligung deutscher Soldaten am Krieg in Afghanistan lehnen wir aus folgenden Gründen ab:

  • Der Krieg in Afghanistan kann das Problem des internationalen Terrorismus nicht lösen;
  • er ist unverhältnismäßig, da er über die richtige Verfolgung einer gefährlichen Verbrecherbande weit hinausgeht und ein ganzes Land zum Ziel eines Krieges macht;
  • der Krieg verwüstet ein ohnehin nach zwanzig Kriegsjahren weitgehend zerstörtes Land weiter und verschärft so die verzweifelte humanitäre Lage an den Rand einer Katastrophe;
  • das Kriegsziel sowie die militärische und politische Strategie zu seiner Erreichung sind unklar;
  • der Krieg soll auch dem Sturz der Taliban dienen - ohne daß es allerdings eine realistische politische Konzeption für eine post-Taliban Lösung gäbe;
  • er verschärft die Gefahr einer regionalen Eskalation, eröffnet zum Beispiel das Risiko, das fragile Pakistan in den Staatszerfall und Bürgerkrieg zu treiben;
  • ein längeres Andauern des Krieges droht dem Kalkül der Terroristen in die Hände zu spielen, indem er einen Konflikt zwischen dem Westen und der islamischen Welt in Kauf nimmt und die säkularen Eliten der islamischen Welt in Gefahr bringt;
  • er verschärft die Gefahr, durch die Schaffung von Märtyrern und zivilen Opfern die Terroristen politisch zu stärken und ihnen mittelfristig mehr Unterstützung zuzuführen.

Zusammengenommen: Der Krieg gegen Afghanistan ist politisch falsch, dient nicht der zielgerichteten Bekämpfung des Terrorismus, ist humanitär verantwortungslos und schafft neue politische Probleme. Es handelt sich um ein Abenteuer, an dem sich niemand, auch nicht die Bundesrepublik, beteiligen sollte. Eine Unterstüzung dieses Krieges durch deutsche Sodaten ist deshalb nicht zu verantworten und muß unterbleiben.

Darüber hinaus sprechen grundsätzliche Erwägungen gegen die Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung zur Bereitstellung von Bundeswehreinheiten:

  • Der zur Abstimmung stehende Antrag entmündigt das Parlament. Der Bundestag soll die Bundesregierung zu militärischen Einsätzen ermächtigen, deren Charakter und Einsatzorte er nicht kennt. Weder Ziel noch Ort und Zeitpunkt des Einsatzes oder die Aufgaben der 3900 Soldaten sind klar. Die Gewährung einer Ermächtigung zu einem allgemein zweifelhaften und im Detail unbekannten Militäreinsatz würde der Verantwortung des Parlaments nicht gerecht.
  • Eine Kriegsbeteiligung der Bundeswehr treibt die "Enttabuisierung" des Militärischen als Mittel der deutschen Außenpolitik einen entscheidenden Schritt weiter. Diese Tendenz halten wir für falsch.

Solidarität mit den Opfern des 11. September und ihren Angehörigen ist uns eine menschliche und politische Verpflichtung. Sie bedeutet aber nicht, einem Freund und Verbündeten mit verbundenen Augen in eine Sackgasse zu folgen. Solidarität heißt vielmehr, eigene Vorschläge vorzulegen, die beide vor der Sackgasse bewahrt und tatsächliche Beiträge zur Schwächung und Bekämpfung des Terrorismus leistet.

Terrorbekämpfung und Krieg Die Bekämpfung des Terrorismus, wenn sie wirklich im Mittelpunkt der Politik stehen soll, müßte (neben der langfristigen Beseitigung der Ursachen von Armut und Hunger) aus zwei Kernelementen bestehen: Der Ergreifung der Täter, ihrer Anklage und Aburteilung, sowie der Austrocknung des politischen Umfeldes des Terrorismus. Unsere Aufgabe ist es in erster Linie, die Strukturen und Netzwerke dieses neuen Terrorismus hier in Deutschland, in Europa und den USA zu zerstören, Ausbildung und Planung von Terroranschlägen hier bei uns zu verhindern und die direkt Beteiligten vor Gericht zu bringen.

Eine Festnahme der als Hintermänner Verdächtigen in Afghanistan und anderen Ländern muß zuerst einmal durch Auslieferung bewirkt werden, wie in anderen Fällen zuvor. Dieser Weg ist nicht ausreichend verfolgt worden. Oder sie kann - wenn nicht anders zu bewerkstelligen - durch gewaltsame, polizeiliche bzw. militärische Mittel erfolgen. Das Ziel muß aber in der gerichtlichen Aburteilung der Täter bestehen, auch wenn dieses Ziel schwierig zu erreichen ist. Die Schwierigkeiten dieses Ziels können nicht bedeuten, sich einfach andere, einfachere Ziele zu setzen oder Gewalt gegen Gruppen oder Länder anzuwenden, die nur mittelbar mit den Verbrechen in Verbindung stehen.

Die terroristischen Verbrecher müssen isoliert werden, sie dürfen nicht die Chance erhalten, in der Wahrnehmung der Menschen nicht nur in islamischen Ländern zu Helden oder Märtyrern zu werden. Einen "Krieg" gegen die Täter , tatsächlich aber gegen das Land, in dem sie Unterschlupf gefunden haben, zu führen wertet die Täter politisch auf, macht sie in der Wahrnehmung vieler Menschen in der Region zum Gegenpol zu den USA oder "dem Westen". Der Argumentation und Propaganda Usama ibn Ladins wird so in die Hände gespielt. Wer Krieg gegen ein Land an die Stelle der Verbrechensbekämpfung setzt, wird die Terrorismusbekämpfung politisch schwächen. Die Zerstörung eines (teilweise längst verlassenen) Teils der Infrastruktur von Al Qaida kann diesen Mangel nicht ausgleichen.

Afghanistan nach den Taliban Die US- und die Bundesregierung argumentieren, daß der Krieg gegen Afghanistan und der beabsichtigte Sturz der Taliban primär der Terrorbekämpfung dienten. Es ist offensichtlich, daß die Taliban reaktionär und repressiv sind. Die Mißachtung der Menschenrechte durch die Taliban existierte bereits vor dem 11. September und kann deshalb nicht zur Begründung eines Krieges mit dem Ziel der Terrorismusbekämpfung herangezogen werden. Die Taliban gewähren auch der Organisation Usama ibn Ladins Unterstützung, aber nicht jede Unterstützung Usama ibn Ladins oder anderer Terroristen kann zum Krieg gegen die Unterstützer führen. Schließlich haben die USA (und Pakistan) in der Vergangenheit selbst die Taliban und sogar Usama bin Ladin unterstützt, als Ihnen dies im Kampf gegen die Sowjetunion nützlich erschien. Es gilt, zwischen den Verbrechern und jenen, die sich nicht von ihnen distanzieren, sie unterstützen oder sie gar benutzen, zu trennen. Der Krieg tut gerade das Gegenteil, er schmiedet beide zusammen und treibt ihnen Sympathisanten zu.

Der Sturz der Taliban ist im Interesse des afghanischen Volkes und der Menschenrechte wünschenswert. Dieses Ziel kann aber nicht bedeuten, den Afghanen eine äußere Lösung aufzuzwingen. Der gegenwärtige Krieg trägt nichts dazu bei, eine stabile, tolerante und funktionierende Regierung in Afghanistan zu ermöglichen. Die Strategie, gemeinsam mit der "Nordallianz" als Bodentruppe zur Ergänzung der Luftangriffe die Taliban zu stürzen, eröffnet mehr Risiken als Chancen. Die "Nordallianz" besteht aus zerstrittenen Milizen, die selbst viele grausame Verbrechen, wie Mord und Massenvergewaltigungen begangen haben. Ein Sieg der Nordallianz würde zum Kampf der Sieger untereinander führen, und zum dauernden Widerstand der Mehrheit der afghanischen Bevölkerung, der Paschtunen, gegen diese Allianz der ethnischen Minderheiten. Gegen oder ohne die Paschtunen ist Afghanistan aber nicht zu regieren, von einer friedlichen Entwicklung ganz zu schweigen. Andere Akteure, die eine Alternative zur "Nordallianz" bilden könnten, sind nicht in Sicht. Damit fehlt der Kriegsstrategie jenseits ihrer militärischen Überlegenheit die entscheidende Voraussetzung zum Erfolg: eine soziale und politsche Basis im Land.

Auch der greise Ex-König - ein ehrenwerter Mann - verfügt im Land lange über keine Machtbasis mehr. Die Alternative, US- oder UN-Truppen das Land verwalten zu lassen (ähnlich wie im Kosovo) besteht in Afghanistan nicht, da die Truppen mittelfristig zwischen die Fronten geraten und von allen - vermutlich auch von der Nordallianz (die das bereits angekündigt hat) - bekämpft würden.

Das bedeutet insgesamt, daß die Kriegsstrategie bezogen auf Afghanistan über keinerlei politische Konzeption verfügt, der der Krieg dienen könnte. Soldaten in eine solche Sackgasse zu schicken ist verantwortungslos. Man braucht kein Pazifist zu sein, um einen Krieg ohne realistisches politisches Konzept für abenteuerlich zu halten.

Kriegführung und humanitäre Katastrophe Der Krieg und die Art der Kriegführung führen zu einer verschärften humanitären Katastrophe. Flächenbombardierungen, der Einsatz von Streu- und Splitterbomben (der praktisch eine weitere Verminung weiter Landstriche bedeutet, obwohl die Ottawa-Konvention von 1997 Anti-Personen-Minen verbietet), und der Tod einer ungewissen Zahl von Zivilisten durch die Bombardierung von Wohnvierteln, Telefonzentralen, Krankenhäusern und Lebensmitteldepots des Roten Kreuzes spitzen die Situation in Afghanistan nach zwei Jahrzehnten Krieg in einem Maße zu, das für viele Menschen direkt lebensbedrohlich wird. Heute sind bereits bis zu 5 Millionen Afghanen ins Ausland geflohen (bereits vor dem Luftkrieg), eine große Zahl irrt als interne Flüchtlinge im Land herum und leidet Hunger. Das Leben mehrerer Millionen Menschen ist im Winter durch Hunger und Kälte gefährdet. Der Krieg verschärft die Lage nicht nur, er erschwert auch die Hilfeleistung und macht sie oft unmöglich. Trotz aller Rhetorik läßt er die Menschen nicht nur allein, er wird das Massensterben wahrscheinlicher machen. Auch ein Kampf gegen menschenverachtende terroristische Verbrecher darf nicht dazu führen, so etwas billigend in Kauf zu nehmen.

Regionale Destabilisierung Der Afghanistan-Krieg droht darüber hinaus, die Region zu destabilisieren. Das Nachbarland Pakistan balanciert seit einigen Jahren am Rande des Staatsbankrotts und des ethno-religiösen Zerfalls, bei Gefahr von Staatszerfall und Bürgerkrieg. Politische Gewalt ist bereits heute in Pakistan zur Seuche geworden, ethnische und religiöse Gruppen begehen oft Massaker aneinander, in Karachi tobte bereits in den 90er Jahren eine Art Bürgerkrieg. Heute besteht die Gefahr, daß der Luftkrieg gegen Afghanistan auch Pakistan in den Abgrund reißt, zu eng sind beide Länder miteinander verknüpft. Präsident Musharraff handelt deshalb im Interesse seines eigenen Landes, wenn er die schnellstmögliche Einstellung der Luftangriffe fordert. Der faktische Beitritt der pakistanischen Regierung in den Krieg auf Seiten der USA destabilisiert seine Regierung und kann mittelfristig den Zerfallsprozeß beschleunigen. Das wäre ein politischer GAU: Pakistan hat 140 Millionen Einwohner und verfügt über Atomwaffen.

Konstruktive Ansätze und Alternativen Der Krieg in Afghanistan ist ein Spiel mit dem Feuer, das neue Probleme schafft. Wir brauchen stattdessen - jenseits der Notwendigkeit, die Terroristen zu ergreifen - geduldige und wirksame Polizeiarbeit, die die internationalen Verflechtungen des Al Qaida Netzwerks offenlegt und die Gruppen dingfest macht. Ein Schlüssel dieser Aufgabe besteht in der Tat in der Verfolgung der finanziellen Transaktionen, ein Mittel, das sich bereits bei der Bekämpfung des Drogenhandels international bewährt hat.

Jenseits dieser und anderer kurzfristiger Aufgaben gilt es aber vor allem, politische Maßnahmen zu ergreifen, die eine Schwächung und Bekämpfung der Terrors erleichtern. Hier wäre etwa an der massiven Stärkung eines internationalen Strafgerichtshofes zu denken, der von allen akzeptiert und handlungsfähig gemacht werden sollte. Auch internationale Maßnahmen gegen ABC-Waffen und deren Proliferation mit einer umfassenden Kontrolle der fraglichen Substanzen in allen Ländern als erster Schritt sind das Gebot der Stunde. Hier brauchen wir schnelle und wirksame Maßnahmen.

Schließlich geht es insbesondere um Anstrengungen, das Umfeld aller Formen politischer Gewalt auszutrocknen. Terrorismus stellt ja nur die spektakulärste Ausdruckform politischer Gewalt dar und kann nur im Zusammenhang mit dieser bekämpft werden. Auch wenn viele Terroristen gerade nicht zu den ärmsten der Armen gehören, so instrumentalisieren sie doch die Armut und Verzweiflung vieler Menschen in der Dritten Welt für ihre Zwecke. Deshalb müssen die Bemühungen wesentlich intensiviert werden, einerseits die Lebensbedingungen und Akzeptanz sowie die Bildungsmöglichkeiten und Entwicklungschancen in vielen - hier auch islamischen - Teilen der Welt zu verbessern, und zugleich die vielen schwelenden oder akuten Regionalkonflikte zu lösen. Wenn der Kaschmirkonflikt, der Palästinakonflikt und andere, auch zukünftige Krisen- und Gewaltherde nicht endlich befriedet werden, dann kann dies mit der Perspektivlosigkeit und Massenarmut in großen Teilen der Dritten Welt eine gefährliche Verbindung eingehen. Gewalt- und Terrorbekämpfung muß auch hier ansetzen.

Schließlich kommt es darauf an, der Gefahr eines globalen Konfliktes der Kulturen endlich einen ernsthaften Dialog der Kulturen entgegenzusetzen. Davon ist viel und gern gesprochen worden, aber wenig substantielles geschehen. Hier Konfliktprävention zu versuchen bedeutet, über Sonntagsreden hinauszugehen und auf gleicher Augenhöhe über brennende Probleme zwischen den Ländern, Gesellschaften und Staaten zu sprechen. Man sollte sich die deutsch-französische, deutsch-israelische und deutsch-polnische Versöhnung zum Vorbild nehmen, um auch mit den Ländern der muslimischen Welt einen umfassenden gesellschaftlichen Dialog zu führen.

Fazit Wir lehnen die Entsendung von Bundeswehreinheiten ab. Sie trüge nicht zur notwendigen schnellen Beendigung des Krieges gegen Afghanistan bei, sondern hilft diesen Krieg fortzusetzen. Sie wäre nicht Teil einer berechtigten Politik zur nötigenfalls auch militärischen Ergreifung der Terroristen, sondern Element einer viel breiter angelegten Kriegsstrategie. Sie trüge zu einer gefährlichen Politik und ihren katastrophalen humanitären Folgen bei. Und sie lenkt das Augenmerk weiter von den wirklich nötigen politischen Maßnahmen ab. Einer solchen Politik können und wollen wir nicht zustimmen.