Wahlkampf 2013

Bundestagsrede von Hans-Christian Ströbele zur Sicherungsverwahrung

12.02.2004: Bundestagsrede von Hans-Christian Ströbele zur Aktuellen Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen Sicherungsverwahrung?

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat der Kollege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU: Gucken wir mal, ob die Bedenken verflogen sind!)

Hans-Christian Ströbele(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dieses Urteil bietet nun wahrlich keinen Grund, von einer Ohrfeige zu sprechen, die die Bundesregierung oder die Parlamentsmehrheit von Rot-Grün bekommen hätten. Das Gericht hat sich große Mühe gegeben und in erster Linie eine Zuständigkeitsfrage entschieden, indem es festgestellt hat, dass - dafür spricht tatsächlich vieles - nicht die Länder zuständig sind, sondern der Bundesgesetzgeber.

Das Bundesverfassungsgericht hat aber nicht gesagt, dass wir eine nachträgliche Sicherungsverwahrung brauchen; es hat nicht einmal gesagt, dass diese mit Sicherheit zulässig ist. Die Mehrheit der Richter des Bundesverfassungsgerichts hat ausdrücklich betont, dass eine solche Regelung nicht von vornherein das Verdikt der Verfassungswidrigkeit trägt. Das heißt, selbst dieses Gericht kommt zu dem Schluss, dass ganz genau überlegt werden muss, ob nicht beispielsweise das Rückwirkungsverbot und andere verfassungsrechtlich sehr wichtige Grundsätze gegen eine solche Regelung sprechen, wie sie beispielsweise Bayern und Sachsen-Anhalt geschaffen haben.

Das heißt, hier ist ein ganz wichtiger Abwägungsprozess vorzunehmen. Das haben wir vor. Eine Entscheidung ist zu treffen. Das Bundesverfassungsgericht sagt nicht mehr, als dass der Bundesgesetzgeber entscheiden soll, ob er selbst für eine Regelung sorgt,

(Zuruf von der [CDU/CSU: Das ist das, was wir gefordert haben!)

ob er überhaupt ein zusätzliches Eingreifen für erforderlich hält oder ob der Bund den Ländern die Kompetenz dafür überträgt. Es wäre durchaus denkbar, dass überhaupt nichts geschieht, weil - so haben es die drei Richter des Bundesverfassungsgerichts, die die Minderheitsmeinung vertreten haben, formuliert - die Maßnahmen, die schon heute möglich sind, ausreichen, zum Beispiel Führungsaufsicht, Weisungen, Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt und Ähnliches, um vor gefährlichen Tätern die Sicherheit zu wahren und die Bevölkerung vor ihnen zu schützen.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU: Das müssen wir entscheiden!)

Das sind alles wichtige Fragen, die wir prüfen müssen. Wir können nicht einfach ohne Prüfung wie Bayern und Sachsen-Anhalt vorgehen, wie Sie es vorschlagen.

Meine Bedenken gegen die nachträgliche Sicherungsverwahrung - das sage ich Ihnen ganz deutlich - sind durch die beiden Fälle, über die das Bundesverfassungsgericht mit zu entscheiden hatte, eher bestätigt worden. Wir wissen - auch das Bundesverfassungsgericht hat das ausdrücklich festgestellt - dass die Sicherungsverwahrung und die nachträgliche Sicherungsverwahrung Regelungen sind, die die Nazis im November 1933 ins Strafgesetzbuch eingeführt haben. Das sollte für uns alle ein Grund sein, ganz genau hinzuschauen.

Jeder Gefangene - auch Sie haben ja hin und wieder mit ihnen zu tun - empfindet die Sicherungsverwahrung natürlich als Strafe ohne Schuld, die er zu erleiden hat,

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist keine Strafe!)

denn die strafrechtliche Schuld hat er ja bereits verbüßt. Wenn die Gerichte in Bayern und in Sachsen-Anhalt die Gefährlichkeit der beiden Männer, die jetzt weiterhin in Sicherungsverwahrung sitzen, damit begründet haben, dass sie sich keiner Therapie unterziehen wollten,

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Das ist sachlich falsch!)

dann bestätigt das meine Bedenken. Gutachter dürfen nicht zu dem Ergebnis der Gefährlichkeit kommen, weil das Fehlen einer Therapie nicht ausreicht. Selbst dem Bundesverfassungsgericht war offensichtlich sehr unwohl, denn es hat gesagt, die Instanzgerichte seien aufgefordert, die Entscheidung zu überprüfen und festzustellen, ob die Gesamtwürdigung der Täter und der Taten eine längere Unterbringung in der Sicherungsverwahrung überhaupt rechtfertigt.

Wenn ich all das berücksichtige, dann kann ich nur zu dem Ergebnis kommen: Wir haben nicht nur die Aufgabe, eine Entscheidung zu fällen, sondern auch, nochmals sehr gründlich abzuwägen. Insbesondere müssen wir das beachten, was uns die drei Richter des Bundesverfassungsgerichts in ihrem Dissenting Vote mit auf den Weg gegeben haben, nämlich dass es nach dem Rückwirkungsverbot, das aus guten Gründen Verfassungsrang hat, eine äußerst problematische Angelegenheit ist - es ist fraglich, ob, in welchem Maße und mit welchen Einschränkungen so etwas passieren kann -, wenn der Gesetzgeber eine Regelung erlässt, die für Menschen, die ihre Strafe bereits verbüßt haben, bedeutet, dass sie weiterhin jahrelang, möglicherweise ein ganzes Leben lang, in der Haft bleiben müssen.

(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Was ist Ihre Alternative?)

Diese Entscheidung werden wir uns nicht leicht machen. Bei dieser Entscheidung sind alle Möglichkeiten offen. Ich kann nur sagen: So wie es die beiden Länder Sachsen-Anhalt und Bayern geregelt haben, so kann eine Regelung jedenfalls nicht aussehen und so darf sie nicht aussehen, weil sie mit den Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht in das Urteil geschrieben hat, inhaltlich nicht zu vereinbaren ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Jörg van Essen [FDP]: Was halten Sie von dem Gesetzentwurf?)