Es geht um die soziale Wende! Interview in der Kiezzeitung Stachel
14.04.2013: Hans-Christian Ströbele im Stachel über seine politische Motivation für eine erneute Kandidatur für den Bundestag.
Die Liste der politischen Agenda von Hans-Christian Ströbele ist lang: Das beginnt beim Thema "Verfassungsschutz" und "Nationalsozialistischer Untergrund". Außenpolitisch fordert er ein sofortiges Ende des Krieges in Afghanistan. Die so genannte Euro-Rettung, die nur den Banken nützt, steht ebenso auf seinem Zettel wie eine Korrektur der Hartz-IV-Gesetze und einschneidende Verbesserungen im Mietrecht. "Nach der Energiewende geht es jetzt um die soziale Wende!" - auf diese Formel bringt er unter starkem Beifall sein politisches Bekenntnis. Und im Bezirk? "Das Besondere dieses Wahlkreises sind die Leute, die Menschen hier!" In aller Unterschiedlichkeit der Lebensgeschichten, der Herkunft, der Ziele. Und für die will er sich einsetzen. Er verspricht einen phantasievollen Wahlkampf, der Spaß machen soll, und kann sich am Ende über das Votum von mehr als 92% der wahlberechtigten bündnisgrünen Mitglieder seines Wahlkreises freuen! Der Stachel hatte schon vorab ausführlich mit Hans-Christian gesprochen.
Stachel: Nach 15 Jahren Bundestag, davon 11 Jahre als Direktkandidat: Was sind deine Antriebskräfte, wo liegen deine politischen Visionen für die kommenden 4 Jahre?
Hans-Christian: Es sind drei Hauptthemen, die mich umtreiben und zu denen ich mich einmischen will. Sie sind weiter aktuell. Das ist der Afghanistan-Krieg: Ich will immer wieder anmahnen und dazu beitragen, dass es 2013/14 auch tatsächlich zu einem Ende des Militär-Einsatzes kommt. In dem Krieg sind zehntausende Menschen getötet und verletzt worden. Ich war von Anfang an dagegen und habe mit vielen meiner Voraussagen leider recht behalten. Was jetzt im Bundestag beschlossen wurde, ist kein Beendigungsmandat, sondern eine Mogelpackung. Viel spricht dafür, dass der Krieg auch nach 2014 weiter gehen wird.
Aber deine Position ist nicht der sofortige Abzug?
Nein. Das wichtigste ist, dass dieser Krieg so schnell wie möglich beendet wird. Es muss ernsthaft verhandelt werden, auch mit den Taliban, erst über einen sofortigen Waffenstillstand und dann darüber, wie es weitergeht. Ich war selbst zweimal in Afghanistan und habe sowohl mit Leuten aus der früheren Taliban-Regierung als auch aus anderen politischen Gruppen gesprochen. Und selbst ein Abgeordneter aus Kandahar, der sich unmittelbar in seinem Leben durch Aufständige bedroht sieht, war dafür, die Taliban in die Regierung aufzunehmen. Wenn einfach so weitergemacht wird wie bisher, steht man 2014 nur vor der Alternative: Entweder es gibt wieder einen fürchterlichen Bürgerkrieg oder der NATO-Krieg geht weiter. Beides wäre schrecklich.
Und wo siehst du Chancen, wo gibt es Hoffnung?
Der Krieg ist verloren. Die Taliban werden sich zumindest teilweise durchsetzen. Aber auch sie scheinen kriegsmüde. Auch auf deren Seite gibt es Bereitschaft zu Verhandlungen und die Hoffnung auf die Fortdauer von Finanzhilfe. Der frühere Wirtschaftsminister der Taliban hatte ein Jahresbudget, das ungefähr den heutigen Kosten einer Überlandstraße entspricht. Er sagt: Mit Geldern, wie sie inzwischen geflossen sind, hätte er das Land wiederaufbauen können. Noch ist Zeit, auf solcher Basis etwa Garantien für Menschenrechte, insbesondere Frauenrechte, auszuhandeln.
Und wie stehst du zu dem Drohnen-Einsatz der USA?
Das nenne ich extralegale Hinrichtungen. Man kann nicht angeblich Verhandlungen anstreben und gleichzeitig die potentiellen Partner zum Abschuss freigeben. Und immer wieder werden Unbeteiligte getroffen. Das schürt Hass und Gewalt. Einer der Taliban, mit denen ich gesprochen habe, war vier Jahre im Folterknast Guantanamo. Er ist freigelassen worden, ohne dass ihm jemals gesagt wurde, was man ihm vorwirft. Man darf auch nicht vergessen: Der Krieg wurde ursprünglich zur Vertreibung und Vernichtung von Al-Kaida geführt, nicht der Taliban.
Kommen wir zu deinem zweiten Thema.
Ja gern. Zur Finanz- und Bankenkrise und deren Lösung mit Steuermilliarden. Ursprünglich eigentlich nicht mein Thema. Ebenso wenig wie die Rettungsschirme für Portugal, Spanien und vor allem Griechenland. Ich habe dazu häufig anders abgestimmt als meine Fraktion. Mittlerweile sehe ich mich in meiner Kritik bestätigt. Man darf ein Land nicht kaputt sparen. Und man muss sich mal vorstellen, was in Deutschland los wäre, wenn Teile der Bevölkerung überhaupt kein Einkommen mehr haben, Rentner und öffentliche Bedienstete Abstriche von 20 bis 25% hinnehmen müssten. Das darf man den Menschen nicht zumuten. Das ist eine ungeheure soziale Schande!
Und die Gelder fließen ausschließlich in den Schuldendienst...
... und kommen den Banken, vor allem den französischen und deutschen, zugute, während die Wirtschaft in Griechenland schrumpft. Wenn eine Bank sich verzockt, muss sie auch pleite gehen können. Für Sparer, die Geld für ihr Alter und Not anlegen, sollte der Staat einstehen. Aber für alle anderen? So ist nun einmal der Kapitalismus: Wer auf hohe Gewinne spekuliert, muss das Risiko tragen, wenn es schief geht.
Stachel: Kommen wir zu Thema Nummer drei.
Hans-Christian: Das ist der Nazi-Untergrund. Als der 2011 aufflog, konnte ich mich aus der Aufklärung nicht raushalten. Schnell war das eklatante Versagen der Geheimdienste klar und betraf damit auch meine weitgehend geheime Tätigkeit im Bundestag, nämlich die Kontrolle der Geheimdienste. Daher sitze ich seither im Untersuchungsausschuss zur NSU. So ein U-Ausschuss - bisher mein vierter- beansprucht viel Zeit, Nerven und Arbeitskraft. Aber eines ist sicher: Die notwendigen Konsequenzen aus dem Versagen werden auch den neuen Bundestag beschäftigen.
Wie könnten solche Konsequenzen aus grüner Sicht aussehen?
Wir wollen den Geheimdienst in seiner jetzigen Form auflösen. In einer offenen Demokratie ist ein solcher ‚Verfassungsschutz’ nicht notwendig. Das ist Aufgabe der Bürger. Und alles, was darüber hinaus geht, muss möglichst offen und transparent geschehen. Dafür gibt es die parlamentarischen Kontrollgremien. Meine Devise war immer: Man muss dem Geheimdienst das Geheime nehmen. Da ist ja zum Glück auch schon einiges geschehen.
Und innerhalb einer möglichen rot-grünen Koalition, wo siehst du dich da?
Immer nur als Parlamentarier. Ich habe immer schon gesagt: Ich will da nichts ‚werden’. Die Bevölkerung als Abgeordneter im Parlament und auch sonst vertreten - eine wichtigere Aufgabe gibt es für mich nicht. Und die Stellung als direkt gewählter Abgeordneter gibt mir dabei eine besondere Freiheit und Selbständigkeit. Womit wir beim Wahlkreis, bei unserem Bezirk wären. Das Aufregende an diesem Bezirk ist: Hier geht man Probleme anders an. Die Leute mischen sich häufiger selbst ein! Ob das nun der Druckraum und die Mietermobilisierung am Kotti ist oder die Not der Flüchtlinge, die Rettung der Bäume am Landwehrkanal oder der Komplex Media-Spree: Unser Anspruch ist, die Menschen dabei zu unterstützen, ihre Anliegen ernst zu nehmen, das Gespräch zu suchen und zuzuhören was los ist. Das ist unser Anspruch als Grüne. So haben wir z.B. als erste Partei wegen Mieterhöhung und Gentrifizierung Alarm geklingelt. Da setzten andere noch auf die Kräfte des freien Marktes. Jetzt übernimmt die SPD und ihr Kandidat Steinbrück, von dem ich das nicht erwartet hätte, ebenfalls die völlig richtigen Forderungen aus der Bevölkerung! Mieterhöhungen müssen gedeckelt werden!
Ein Thema, das immer mehr brennt, gerade in unserem Bezirk!
Na ja, die Probleme stoßen hier häufig früher auf. Manche werfen mir vor, ich sei für Multi-Kulti. Das stimmt, aber ich leugne nicht die Probleme. Viele haben auch damit zu tun, dass Kinder aus Migrantenfamilien weiter in Bildung und Berufsmöglichkeiten benachteiligt sind. Ich versuche zu helfen, wenn sich die Leute mit ihren Sorgen an mich wenden. Und in der sogenannten großen Politik engagiere ich mich für Ausländerwahlrecht und Zulassung von doppelter Staatsbürgerschaft.
Wie schätzt du denn die Möglichkeiten im Bundestag ein, wie effizient ist die Arbeit dort, wie hoch ist der Einfluss von Politik auf das Leben der Menschen tatsächlich?
Effizienz und Einfluss einzelner Abgeordneter aus der Opposition sind bescheiden. Ich sehe den heutigen Parlamentarismus durchaus kritisch. Im Plenum werden Entscheidungen meist nur abgesegnet. Die Möglichkeit sie durch eine Rede noch zu beeinflussen, sind in der Nähe von Null. Aber man kann abweichende Positionen immer wieder öffentlich machen. Es lohnt sich, dicke Bretter lange zu bohren. Denn das Bewusstsein verändert sich, jenseits von schnellen Erfolgen. Beispiele ökologische Landwirtschaft oder auch die Energiewende. Der Anteil von erneuerbaren Energien liegt jetzt bei 25 %. Vor Rot-Grün hat das kaum jemand für möglich gehalten. Das Bewusstsein ist da - die Realität hinkt noch ein wenig hinterher.
Und da willst du ran!
Gar keine Frage: Es waren oft Außenseiterpositionen, die ich vertreten habe. Nicht nur zu Afghanistan, sondern zum Beispiel auch zu Tobin- und Vermögenssteuer oder im Mietenbereich. Ganz allmählich hat sich die Haltung dazu verändert. Ich setze mich dafür ein, dass das auch in einer rot-grünen Koalition so bleibt!
Hans-Christian, herzlichen Dank.
Interview: Henry Arnold und Christian Könneke