Wahlkampf 2013

Rechenschaftsbericht zur Halbzeit der Legislaturperiode

22.11.2007: Wie bereits 2004 berichtet Hans-Christian Ströbele mit einem BürgerInnenbrief zur "Legislatur-Halbzeit" über seine Arbeit in Bundestag und im Wahlkreis.

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

Vor zwei Jahren fand die vorgezogene Bundestagswahl statt. Die Mehrheit der Bevölkerung im Wahlkreis Friedrichshain/Kreuzberg/Prenzlauer Berg Ost hat mir ihre Erststimme gegeben. Ich erhielt 69988 Stimmen oder 43,3%. Im Teilbezirk Kreuzberg waren es sogar 53,4 %. Erneut wurde ich direkt in den Bundestag gewählt. Ich danke allen, die mir ihre Stimme gegeben haben, ganz herzlich für das Vertrauen. Die Hälfte der Legislaturperiode ist seither vergangen. Im letzten Jahr fand die Wahl zum Abgeordnetenhaus statt. In drei Wahlkreisen des Bezirks waren KandidatInnen erfolgreich, die ich unterstützt hatte: Heidi Kosche, Dirk Behrendt und Özcan Mutlu. Bündnis 90/Die Grünen stellen im Bezirk Friedrichshain- Kreuzberg mit Franz Schulz den Bürgermeister. Ich habe mich darüber sehr gefreut. Mit diesem Brief berichte ich über meine Tätigkeit und meine Entscheidungen im Bundestag.

Ausschnitt aus meinem Wirken als Bundestagsabgeordneter

Zunächst ein Blick in eine ereignisreiche Woche: Ich war in Afrika in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba und habe an der Regionalkonferenz des Deutschen Entwicklungsdienstes teilgenommen. Es wurde über Erfolge und Misserfolge in der Entwicklungsarbeit diskutiert und ich habe viel erfahren, was mir bei der Entscheidung über den Haushaltsplan 2008 hilft. Bei Treffen mit dem Präsidenten und äthiopischen Parlamentariern ging es auch darum, dass deutsche Steuermittel nur eingesetzt werden, wenn sie wirklich für die Armutsbekämpfung und mehr Bildung ausgegeben werden. Und wenn Pressefreiheit und Menschenrechte geachtet werden. In Äthiopien lebt eine mehrheitlich christliche Bevölkerung (ca. 50%) mit einer großen Minderheit von Moslems (ca. 45 %) zusammen. Das funktioniert ohne größere Schwierigkeiten. Es war deshalb interessant, sich über Erfahrungen und Probleme mit der Integration auszutauschen. Ich war geschockt, als Abgeordnete berichteten, die schreckliche Beschneidung von Mädchen werde noch immer in christlichen Familien, genauso wie in islamischen, praktiziert. Das sei zwar strafbar, aber es gebe keine Verurteilung.

Kurz vor der Abreise ging es um ganz andere Themen. Im Bundestag wurde diskutiert und abgestimmt über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Ich habe begründet,warum ich erneut mit NEIN gestimmt habe. Und ich habe an einem Ratschlag mit dem Chaos Computer Club in Berlin teilgenommen. Junge Spezialisten haben uns informiert, wie Online-Durchsuchungen funktionieren. Dabei ging es um die Frage, kann ein solcher Eingriff in Privat-Computer begrenzt werden und was bringt er im Kampf gegen Terroristen, denn damit begründet Innenminister Schäuble die Einschleusung von "Trojanern" in PCs. Allein auf Erläuterungen der Geheimdienst- und Sicherheitsexperten wollte ich mich nicht verlassen. Ich weiß jetzt, dass es eine wirksame Begrenzung von Online-Durchsuchungen nicht gibt.

Zwischendurch habe ich Interviews gegeben zu so unterschiedlichen Themen wie der Vorratsdatenspeicherung, der RAF-Geschichte oder dem neuen McDonald’s-Restaurant in Kreuzberg. Dann bin ich nach Frankfurt gereist, um mit Abgeordneten von SPD und der Linken zu diskutieren, wie die linke Wahlmehrheit in Deutschland zu einer Regierungsmehrheit werden könnte.


Aber nun der Reihe nach zu den wichtigsten Themen der vergangenen zwei Jahre:

Untersuchung der Geheimdienst-Skandale

Im Dezember 2005, gleich nach Bildung der neuen Regierung einer großen Koalition, berichtete die Presse über Geheimdienstskandale. US-Geheimdienste hätten auch deutsche Flughäfen zur Verschleppung von Terrorismusverdächtigen in Geheimgefängnisse genutzt, wo diese gefoltert und illegal festgehalten wurden. Der frühere Innenminister Schily habe von einer solchen Verschleppung des Deutschen El Masri in ein afghanisches Gefängnis kurz nach der Freilassung erfahren, aber deutschen Behörden, Justiz und Parlament davon nichts gesagt. Und zwei deutsche BND-Agenten hätten während des US-Krieges gegen den Irak in Bagdad Informationen gesammelt und Ziele für Bombenangriffe an das US-Einsatzkommando weitergegeben. Ich bin Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die deutschen Geheimdienste. Ich habe mich sofort dafür stark gemacht, diese Skandale schonungslos und ohne Rücksicht auf die grüne Regierungsbeteiligung aufzuklären. In vielen Sondersitzungen und umfangreichem Aktenstudium habe ich mich bemüht, Licht in die Affären zu bringen. Teilweise ist dies gelungen. Die Bundesregierung musste eine ausführliche Stellungnahme vorlegen. Ich habe einen eigenen Bericht verfasst. Darin steht, dass die BND-Leute aus Bagdad in der Tat militärische Objekte gemeldet haben, die als Ziele für Angriffe aus der Luft in Betracht kamen. Weil eine vollständige Aufklärung aller öffentlich erhobenen Vorwürfe nicht möglich war, habe ich mich mit der grünen Fraktion für einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. In ihm vertrete ich als Mitglied die grüne Fraktion. Seit April 2006 ist meine Kraft auf diese Aufklärungsarbeit konzentriert. Das wird wohl auch so bleiben bis zum Ende der Legislaturperiode 2009. Der Untersuchungsausschuss arbeitet erfolgreich, auch wenn wir nicht alles klären können, weil die Bundesregierung wichtige Akten nicht herausgibt. Dagegen haben wir Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.

Bundeswehreinsätze im Ausland

Besonders engagiert bin ich, wenn es um den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland geht. So auch im April 2006, als es um 500 deutsche Soldaten ging, die in den Kongo zur Sicherung der Wahlen geschickt werden sollten. Es gab eine Anforderung der UNO zur Verstärkung der UN-Friedenstruppe von 17 000 Soldaten, die ohnehin im Land für die Einhaltung der Friedensverträge sorgen sollen. Um mir selbst ein Bild zu machen, bin ich in das afrikanische Land geflogen. Eine Woche lang habe ich in der Hauptstadt Kinshasa und im Osten Gespräche geführt mit Präsidentschaftskandidaten, mit der Opposition, mit UN-Vertretern, aber vor allem mit zahlreichen Vertretern derZivilgesellschaft. Alle setzten große Hoffnung auf die Wahlen und deren Absicherung durch deutsche Soldaten. Ich habe deshalb den Einsatz grundsätzlich befürwortet, allerdings unter der Bedingung, dass der Wahlprozess fair und demokratisch ist und die Soldaten wirklich die Bevölkerung vor Übergriffen schützen. Bei der Abstimmung im Bundestag im Mai habe ich letztlich doch mit NEIN gestimmt, weil von fairen Wahlen keine Rede mehr sein konnte, nachdem die Milizen der Präsidentschaftskandidaten ihre Hauptquartiere gegenseitig mit Maschinengewehren und Panzerfäusten beschossen. Das Wahlergebnis bestätigt diese Bedenken. Gewählt wurde der vorherige Präsident, obwohl er verdächtigt wird, mit seiner Familie eine Milliarde Dollar veruntreut zu haben. In einigen Provinzen haben angeblich 99 % der Bevölkerung für ihn gestimmt!

Seit sechs Jahren entscheidet der Bundestag jedes Jahr wieder über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Ich habe von Anfang an gegen den Kriegseinsatz gestimmt und tue dies bis heute. Den Einsatz der Bundeswehr als Polizeieinsatz zur Sicherung der Bevölkerung und des Wiederaufbaus habe ich zunächst anders beurteilt. Inzwischen sehe ich aber, dass der verhängnisvolle Offensivkrieg mit Hunderten von getöteten Zivilisten gemeinsam von US-Einheiten und Nato-Truppen geführt wird. Dieser Krieg erzeugt immer stärkere Ablehnung und Hass in der Bevölkerung und treibt den Taliban neue Kämpfer zu. Dass im März diesen Jahres Tornado-Flugzeuge der Bundeswehr nach Afghanistan geschickt wurden und jetzt auch im Süden und Osten eingesetzt werden, finde ich falsch. Ihre Aufklärungsflüge werden auch zur Kriegsführung genutzt. Deshalb habe ich bei der Verlängerung dieses Bundeswehreinsatzes ebenfalls mit NEIN gestimmt.

Hartz-IV korrigieren und Grundeinkommen

Fast täglich werde ich in Zuschriften und Gesprächen im Wahlkreis mit den Mängeln der sog. Hartz-Reform konfrontiert. Die Regelsätze sind zu niedrig, man kann davon nicht leben. Die Altersversorgung muss zum großen Teil aufgebraucht werden, bevor es ALG-II gibt. ALG-II Zahlungen werden ganz gestrichen, weil der Partner über ein wenn auch nur geringes Einkommen verfügt. Das trifft vor allem Frauen. Die Kontrollen und Zwänge sind oft unerträglich. Ich versuche in Einzelfällen zu helfen und Probleme mit dem Jobcenter zu lösen. Manchmal haben Briefe oder Telefonate dazu beigetragen, Fehler und Ungerechtigkeiten zu korrigieren. Ich unterstütze alle Verbesserungsvorschläge und die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn. Die Rente mit 67 habe ich abgelehnt, weil ich sie als verdeckte Rentenkürzung sehe. Damit nicht genug: Mittel- und langfristig befürworte ich die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle. Auf den ersten Blick erscheint eine solche Zahlung an alle unsinnig. Aber bei den Besserverdienenden würde das Grundeinkommen mit den auch heute existierenden Steuerfreibeträgen verrechnet. Mit einem solchen Grundeinkommen könnte die unwürdige Gängelung von Millionen ALG-IIEmpfängerinnen und Empfängern durch die Jobcenter beseitigt werden. Es ist mit der Menschenwürde nicht zu vereinbaren, wenn Menschen offenlegen und kontrollieren lassen müssen, mit wem sie Zahnbürsten und Kühlschrank teilen. Es erscheint auch wenig sinnvoll, sie auf einen Arbeitsmarkt zu drängen, auf dem es zu wenig Jobs gibt. Deshalb halte ich die Diskussion über die Ausgestaltung eines bedingungslosen Grundeinkommens für wichtig.

G8-Proteste und Abbau des Rechtsstaats

An den Protesten rund um Heiligendamm gegen den G8-Gipfel Anfang Juni habe ich an zwei Tagen teilgenommen. Die Auswirkungen der Globalisierung sind zutiefst sozial ungerecht. Der Heiligendamm-Gipfel war in erster Linie ein Medienspektakel und gaukelte Problemlösungen nur vor. Gegen das Bedrohungsszenario, das vom Innenminister schon Monate vorher aufgebaut worden war, gegen bundesweite Durchsuchungsaktionen, den Ruf nach härteren Gesetzen und den Einsatz der Bundeswehr, hatte ich protestiert. Danach habe ich versucht, die Polizeieinsätze und vor allem die Aktivitäten der Bundeswehr aufzuklären, die mit über 1000 Soldaten vor Ort war. Ich habe Anfragen an die Bundesregierung wegen des Einsatzes der Bundeswehr-Tornados gestellt. Gegen die gezielten Überflüge von Demonstrantencamps und den Einsatz von Spähpanzern habe ich mit der grünen Fraktion Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.

Weiterhin beschäftige ich mich überwiegend mit der Innen- und Rechtspolitik. Ich setze mich dafür ein, dass Rechtsstaat und Bürgerrechte der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus nicht geopfert werden. Der Privatbereich der Bürgerinnen und Bürger muss vor Überwachung und Aushorchen geschützt bleiben, Bundeswehreinsätze im Inland gegen Demonstranten darf es nicht geben. Innere Sicherheit ist überwiegend eine Frage einer guten Außenpolitik. Durch Bombardements von Zivilisten wie in Afghanistan wird die Anschlagsgefahr in Deutschland erhöht.

Anwalt der Menschen im Wahlkreis

Nach wie vor will ich für die Menschen im Wahlkreis wirken. Hunderte haben sich bei mir gemeldet zu Themen wie der Rente mit 67 oder dem Verkauf der Bahn, aber auch mit Problemen im Kiez. Auf Nachfrage habe ich Äußerungen von mir erläutert, die zu einiger Aufregung geführt hatten, wie Überlegungen zu einem islamischen Freiertag oder zum Singen der deutschen Nationalhymne in türkischer Sprache. Diese angeblichen Provokationen waren in Wahrheit keine. Denn die deutsche Nationalhymne wird seit Jahren von der Pressestelle des Bundestages in Türkisch verbreitet. Und auch ein islamischer Feiertag wäre nicht sensationell, wenn man berücksichtigt, dass von 40 Ländern mit überwiegend islamischer Bevölkerung 18 christliche Feiertage haben. In meinen Wahlkreisbüros in Friedrichshain und in Kreuzberg, in der Dresdener Straße 10 und der Dirschauer Straße 13, beraten Mitarbeiter Einzelpersonen und Gruppen. Ich führe dort selbst Sprechstunden durch. Wir versuchen zu helfen, nicht immer mit Erfolg, manchmal aber eben doch. So stand ich Pate für das Kulturprojekt "Boheme am Kottbusser Tor" und beim Mehrgenerationenhaus im Wrangelkiez, unterstützte die Initiativen für die Umbenennung von Teilen der Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße, gegen das neue McDonald’s-Restaurant in unmittelbarer Nähe von mehreren Schulen und für die Erhaltung eines Friedrichshainer Jugendprojekts. In diesem Sommer habe ich mich gegen die Baumfällungen am Landwehrkanal engagiert. Der bravouröse Bürgerprotest wurde von mir unterstützt, durch parlamentarische Anfragen, Gespräche mit dem Bundesministerium und öffentliche Erklärungen. Die vorläufigen Erfolge des Widerstandes gegen ein scheinbar übermächtiges Bundesamt sind für mich auch ein Beispiel dafür, dass sich Bürgerengagement lohnt.

Ich ermuntere Sie: Schreiben Sie mir per Email oder mit der Post. Ich versuche stets zu antworten, wenn es manchmal auch länger dauert. Zu den meisten Themen, die ich im Brief angesprochen habe, finden Sie ausführlichere Informationen auf meiner Homepage.

Mit freundlichen Grüßen

Christian Ströbele