Wahlkampf 2013

Rede im Bundestag zu Ausweitung des Maßregelrechts bei extremistischen Straftätern

17.02.2017: Rede von Hans-Christian Ströbele vom 17.02.2017 zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Ausweitung des Maßregelrechts bei extremistischen Straftätern. Lesen oder schauen Sie hier die ganze Rede:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist in der Tat richtig, wenn man sich nach so einem schrecklichen Anschlag wie dem kurz vor Weihnachten hier in Berlin auf dem Breitscheidplatz fragt: Wie konnte es dazu kommen, und wie kann man in Zukunft so etwas verhindern? Verschiedene Gremien des Deutschen Bundestags, aber auch Gremien in Länderparlamenten sind dabei, erst einmal zu klären: Wie konnte es dazu kommen? Was ist richtig und was ist falsch gemacht worden? Wo ist es eine Fehlentwicklung gewesen? Wo sind geltende Gesetze nicht angewandt worden? - Daraus sind dann Schlussfolgerungen zu ziehen. Nun haben Sie hier als Erstes den Vorschlag gemacht, die elektronische Fußfessel einzusetzen. Die gesetzliche Grundlage für eine solche Möglichkeit der Überwachung ist relativ neu; so etwas gab es früher nicht. Sie ist allerdings für einen ganz anderen Tätertyp geschaffen worden, nämlich - Sie haben darauf hingewiesen - für Sexualstraftäter, bei denen man davon ausgeht, dass sie ein ganz normales Leben führen, möglichst nicht auffallen wollen und dann, aus welchen Gründen auch immer - aus Krankheitsgründen, weil es sie überkommt, weil sich eine Gelegenheit ergibt oder weil sie sich eine Gelegenheit schaffen wollen -, eine Sexualstraftat begehen. Aber das trifft doch nicht auf Herrn Amri oder ähnliche Personen zu. Herr Amri würde unter die gesetzliche Bestimmung, wie sie hier formuliert ist, überhaupt nicht fallen; denn gegen ihn wurde noch kein Strafverfahren durchgeführt. Aber selbst wenn die Polizei jemanden als Gefährder ansieht - Amri wurde als Gefährder angesehen - und sagt: "Auch bei Gefährdern legen wir eine Fußfessel an", stellt sich für mich die Frage: Was ist denn die Wirkung? - Haben Sie sich damit einmal beschäftigt?

Es stimmt gar nicht, dass eine Fußfessel eine Fessel ist; da wird niemand gefesselt. Der Betroffene kann noch laufen, er kann Fahrrad fahren, er kann noch Auto fahren, er kann noch U-Bahn fahren, er kann noch Straftaten begehen, und zwar jede Straftat, die man sich denken kann - das verhindert die Fußfessel nicht -, und er kann die Fußfessel auch ablegen, wenn er sich beispielsweise auf die Flucht begibt.

Wie funktioniert das? In der Fußfessel ist ein Sender, und der Sender löst einen Alarm aus, und zwar nicht in der nächsten Polizeidienststelle, wie Sie eben gesagt haben, sondern in der Nähe von Frankfurt am Main. Stellen Sie sich vor, Amri hätte eine Fußfessel getragen. Dann hätten mehr als ein Jahr lang, also solange er als Gefährder angesehen worden ist, ständig Alarmsignale in der Nähe von Frankfurt gebimmelt; denn er hat sich ja ständig nicht dort aufgehalten, wo er sich aufhalten sollte. Die Behörden wussten, dass er sich überall aufhält, nur nicht dort, wo er sich aufhalten sollte; sie haben aber nichts unternommen. Sie wussten das, weil sie ihn beobachtet haben, weil sie zum Teil sein Telefon überwacht haben, weil sie zum Teil einen V-Mann direkt neben ihm sitzen hatten, mit dem er nach Berlin gefahren ist, und ähnliche Geschichten. Sie waren also über alles informiert. Es fehlte doch hier nicht an Kommunikation, sondern es fehlte an der richtigen Reaktion des Staates.

Da nützen Fußfesseln überhaupt nichts. Herr Amri hätte auch mit Fußfessel Auto bzw. Lkw fahren können. Er hätte sie abstreifen können. Er hätte versuchen können, sie auszuschalten. Als er aus dem Lkw ausgestiegen ist, hätte er das Band - eine Art metallverstärktes Lederband - ablegen können. Er hätte also genauso fliehen und nach Lyon oder schließlich nach Mailand oder sonst wohin kommen können, selbst wenn er eine Fußfessel gehabt hätte. Nein, das ist der völlig falsche Weg. Ich glaube, da wird versucht, eine trügerische Sicherheit zu schaffen; denn das ist gar keine richtige Sicherheit. Was falsch gemacht worden ist - so viel wissen wir inzwischen -, ist, dass die bestehenden Gesetze nicht angewandt worden sind.

Es gab mehr als ein Dutzend Straftaten, derer er verdächtigt worden ist und die er auch alle begangen hat, übrigens in einem Zeitraum, als er nach Ihrer Vorstellung eigentlich eine Fußfessel hätte tragen müssen. Über diese Straftaten wusste man Bescheid, sie waren auch bewiesen; aber man hat nichts gemacht. Man hat nicht etwa eine Staatsanwaltschaft damit beauftragt, alle Verfahren zusammenzuführen und dann die notwendigen strafrechtlichen und strafprozessualen Konsequenzen zu ziehen. Man hätte ihn auch in Haft nehmen können. Deshalb: Sie wollen darüber hinwegtäuschen, dass gravierende Fehler gemacht worden sind, wahrscheinlich in Nordrhein-Westfalen, wahrscheinlich in Berlin und wahrscheinlich vor allen Dingen auch in Bundesbehörden, etwa im Bundesinnenministerium, das nicht dafür gesorgt hat, dass die Passersatzpapiere - die für einen Haftbefehl wegen einer strafbaren Handlung gar nicht gebraucht werden, sondern um eine Abschiebung zu sichern und ihn aus diesem Grunde in Haft zu nehmen - beschafft werden. Das Bundesinnenministerium hat die Chance verpasst, ihm diese Papiere zu verschaffen. Die Mitarbeiter dort wussten mindestens seit Oktober letzten Jahres, dass sie die Papiere von Tunesien hätten bekommen können, weil man ihn dort als eigenen Staatsbürger anerkannt hat. Aber sie haben nichts gemacht.

Sie haben das Ganze irgendeiner Behörde in Nordrhein-Westfalen überlassen und haben gesagt: Kümmert ihr euch darum. - Die haben dann Briefe geschrieben oder Mails geschickt; das wissen wir nicht.

Jedenfalls hat man sich damit zufriedengegeben, dass man nichts bekommen hat. Wären alle gesetzlichen Möglichkeiten ausgenutzt worden, dann hätte man eine große Chance gehabt, diesen Anschlag zu verhindern. An diesen Gedanken müssen Sie sich gewöhnen. Sie müssen sich fragen: Warum werden die Gesetze nicht angewandt?