Keine Bannmeile um den Reichstag!
01.05.1999: Zur Diskussion um die Demonstrationsfreiheit rund um den Reichstag
Demonstrationsfreiheit um den Reichstag
Am 19. April 1999 tagte der Bundestag im Reichstag in Berlin. Zwei Demonstrationen waren angesagt: gegen Dumpinglöhne auf dem Bau und gegen den Krieg. Eine Bannmeile gab es nicht. Tausende demonstrierten ganz nah am Reichstag. Abgeordnete wurden nicht beeinträchtigt.
DemonstrantInnen vor dem Sitz des Parlaments. Bilder, die wir aus Washington, Paris und London kennen. Bannmeilen gibt es dort nicht. Nach 50 Jahren demokratischer Normalität auch in Berlin. Eine erwachsengewordene deutsche Demokratie braucht keinen Sonderschutz der VolksvertreterInnen vor DemonstrantInnen.
Die Abgeordneten werden ohne Bannmeile durch Gesetze geschützt. Auch rund um den Reichstag gilt das Versammlungsgesetz. Danach ist jede öffentliche Versammlung rechtzeitig anzumelden. Die Polizei kann sich vorbereiten, etwa Absperrgitter aufstellen wie in Berlin im April 1999. In Ausnahmefällen kann sie Demonstrationen für begrenzte Bereiche oder auch mal ganz verbieten. Dazu braucht es kein Bannmeilengesetz. Außerdem ist es ohnehin nach dem Strafgesetzbuch strafbar, wenn jemand die Tätigkeit des Parlaments stört oder hindert.
Das Gesetz über den befriedeten Bezirk schafft keine Bannmeile unter anderem Namen. Es ist ein Kompromiß mit Rücksicht auf Sicherheitsbedenken noch ängstlicher VolksvertreterInnen. Die Anmeldefristen für öffentliche Versammlungen werden verlängert und Demonstrationen von Zulassungen abhängig gemacht.
Aber ein Verstoß gegen die Zulassungspflicht ist keine Straftat. Die Polizei ist nicht in jedem Fall nach dem Legalitätsprinzip zum Einschreiten verpflichtet, auch dann, wenn das Parlament in seiner Arbeit tatsächlich gar nicht gestört wird. Demonstrieren im befriedeten Bezirk ohne Zulassung ist nur eine Ordnungswidrigkeit, wie ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. Demonstrationen vor dem Reichstag sind zuzulassen, wenn Störungen der parlamentarischen Arbeit nicht zu erwarten sind. Damit kann sich das Volk auf dem Platz der Republik auch in Zukunft versammeln. Die Berliner Republik beginnt nicht damit, daß Demonstrationen von dem berühmten Demonstrationsort verbannt werden, auf dem sich Hunderttausende nach dem Krieg versammelt hatten, um Ernst Reuter oder Willy Brandt zu hören.
Am 30. Juni 2003 tritt das Gesetz außer Kraft. Dann herrscht auch rund um den Reichstag pure Demonstrationsfreiheit. Die deutsche Republik ist dann ganz in der Demokratie angekommen.
Hans-Christian Ströbele