Wahlkampf 2013

Erklärung zum Abstimmungsverhalten über den Vertrag von Lissabon - nach §31 GO BT

24.04.2008: Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu dem Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon (Drucksache 16/8300) und dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes in den Artikeln 23, 45,und 93 ( Drucksache 16/8488 )

"Der Vertrag von Lissabon ist in der Substanz mit dem Verfassungsvertrag weitgehend identisch. Die Kritik, wie sie beispielsweise von attac und der französischen Linken an Teilen der EU- Verfassung 2005 geäußert wurde, ist nach wie vor schwerwiegend und in einigen Punkten berechtigt. Dazu gehört, dass die Staaten Europas zur militärischen Aufrüstung verpflichtet, militärische Missionen ohne UN-Mandat nicht generell ausgeschlossen und viele Elemente einer neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung für Europa festschrieben werden.

Es wäre sicher besser, die Verträge sähen anders aus. Vieles wäre noch wünschenswert. Allerdings sollte eine Beurteilung der EU-Verträge sich nicht nur am Wünschenswerten orientieren, sondern am Vergleich mit der heutigen Rechts- und Vertragslage, also was wird schlechter und was besser, wenn die Verträge angenommen werden. Und da sieht das Ergebnis anders aus. Viele der kritisierten Inhalte sind schon heute auch nicht besser geregelt, sondern finden sich seit Langem in geltenden EU-Verträgen und der Praxis. Die Verträge bringen sogar wesentliche Verbesserungen, wie die Grundrechtscharta und erheblich mehr Rechte für das EU-Parlament und die nationalen Parlamente. Und die Todesstrafe wird durch die EU-Verträge nun wirklich nicht in Deutschland eingeführt und das kann auch in Zukunft nicht passieren.

1. Kaum verständliche und unübersichtliche Vertragstexte

Richtig ist, dass die vorgelegte Fassung der Verträge auch für JuristInnen schwer lesbar und kaum verständlich ist. Auch ist alles sehr unübersichtlich. Erst spät, erst in diesen Tagen wurde eine konsolidierte Fassung online gestellt. Das ist bedauerlich und zu kritisieren, weil damit die Diskussion über den Text unnötig erschwert wurde.

2. Verträge sind keine Verfassung

Der Vertrag ist keine Verfassung. Damit ist die Rechtsqualität auch eine andere. Ich war und bin der Meinung, dass über eine EU-Verfassung eine Volksabstimmung in allen Ländern der EU stattfinden sollte. Die Notwendigkeit einer Legitimation durch eine Volksabstimmung sehe ich beim jetzigen Vertragsbündel weniger zwingend als bei der EU-Verfassung. Trotzdem wäre ich dafür, auch hierüber die Völker in einem Referendum entscheiden zu lassen. Dass dies nicht geschieht, kritisiere ich.

3. Bessere Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundestages

a. Ich habe damals gefordert, dass die EU-Verfassung nicht verabschiedet werden sollte, ohne dass vorher die Mitwirkung des Bundestages bei der zukünftigen Rechtssetzung in Europa umfassend und vollständig durch Gesetz geregelt wird. Diese Forderung ist inzwischen erfüllt. Der Bundestag hat ein solches Gesetz rechtzeitig verabschiedet, das auch deutliche Verbesserungen für die Mitwirkungsmöglichkeit des Bundestages gegenüber dem bisherigen Stand enthält. Danach wirken Bundestag sowie Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühest möglichen Zeitpunkt zu unterrichten. Sie gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union und muss die Stellungnahmen bei ihren Verhandlungen berücksichtigen. Die Bundesregierung muss im Rat sogar einen Parlamentsvorbehalt einlegen, wenn der Beschluss des Bundestages in seinen wesentlichen Belangen nicht durchsetzbar ist. In einer weitreichenden Vereinbarung über die Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäischen Union werden diese Rechte konkretisiert. Damit hat der Bundestag mehr Möglichkeiten als bisher, sich frühzeitig einzuschalten und auf die europäische Rechtssetzung Einfluss zu nehmen, eine Verbesserung des bisherigen Rechtszustandes.

b. Die Verträge schaffen noch das Recht auf Subsidiaritätskontrolle, die Subsidiaritätsrüge und die Subsidiaritätsklage.

4. Mehr soziale Rechte als im Grundgesetz

In der Grundrechtecharta ist zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union in einem einzigen Text die Gesamtheit der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der europäischen Bürger sowie aller im Hoheitsgebiet der Union lebenden Personen zusammengefasst. Es ist keineswegs so, dass Grundrechtecharta und Verträge ausschließlich eine neoliberale Wirtschaftsordnung festschreibt und damit Errungenschaften des Grundgesetzes aufgeben werden. Ganz im Gegenteil enthalten die Verträge Forderungen nach sozialer Gestaltung und nach sozialer Gerechtigkeit, die über das hinausgehen, was im Grundgesetz steht. Richtig ist, die Verträge enthalten die Festschreibung des "Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb", aber auch das Bekenntnis, die EU wirkt auf "eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt"… "Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten" (Art. 2, Absatz 3 EUV) Und nach der sozialen Querschnittsklausel müssen alle Rechtsakte künftig auf ihre Sozialverträglichkeit hin überprüft werden (Art. 5a AEUV): "Bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen trägt die Union den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, mit der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung."

5. Mehr Mitwirkungsrechte für EU-Parlament

Die Verträge machen die EU demokratischer, transparenter und effizienter. So wird das bisherige "Mitentscheidungsverfahren" zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren in der EU. Das heißt, dass das EU-Parlament und der Ministerrat in 95 Prozent der Europäischen Gesetzgebung zum gleichberechtigten Gesetzgeber werden. Das EU-Parlament kann in Zukunft hierbei nicht nur über das abstimmen, was die EU-Kommission vorgelegt hat, sie kann gravierende Änderungen bewirken. Auch heute schon können die Mitgliedstaaten und das EP die Kommission auffordern, einen Rechtsetzungsakt vorzulegen (Art. 192, 2 EGV). Mit der EU-Bürgerinitiative wird erstmals ein direktdemokratisches Element in die EU eingeführt. Damit können 1 Million EU-BürgerInnen die Kommission einladen, zu einem bestimmten Bereich einen Gesetzesvorschlag vorzulegen

6. Bindung an VN-Charta

Es stimmt nicht, dass die Verträge die VN-Charta aushebeln. Im Gegenteil, durch den Vertrag wird die EU ausdrücklich auf die "Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen" festgelegt. Damit muss die EU "internationale Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei(zulegen), dass der Weltfriede, die internatonale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden" (Artikel 2 Absatz 3 UN-Charta). In Artikel 2 (5) EUV wird festgeschrieben: "In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen." Damit werden nicht nur zivile und militärische Fähigkeiten auf eine Stufe gestellt, sondern auch die gesamte Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik an die Charta der Vereinten Nationen gebunden!

7. Aufrüstungsverpflichtung

Gegen die Bestimmung des Artikel 28a EUV (3), wonach sich die Mitgliedstaaten "verpflichten (…), ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" und eine "Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten" einzurichten, habe ich erhebliche Bedenken. Als das noch im Entwurf zu einer EU-Verfassung stand, war ich darüber empört und habe ich mich heftig dagegen gewandt, weil eine solche Aufgabe in einer Verfassung auch wegen des hohen Symbolgehalts nichts zu suchen hat und auch politisch abzulehnen ist. Nun steht es nicht mehr in einer Verfassung, sondern in einem Vertrag. Ich halte es gleichwohl weiter für falsch und nicht vertretbar. Allerdings bildet diese Bestimmung nur die Realität nach, denn die Agentur wurde bereits im Jahr 2004 auf der rechtlichen Grundlage des bestehenden EU-Vertrags eingerichtet und wird also nicht mit dem Vertrag von Lissabon neu geschaffen. Sie ist die Nachfolgeorganisation der Beschaffungsagentur OCCAR, der Westeuropäischen Rüstungsorganisation WEAG und der Westeuropäischen Rüstungsgruppe WEAO. Eine "Aufrüstungsverpflichtung" wurde bisher nie daraus hergeleitet und sollte auch in Zukunft daraus nicht entnommen werden. Die "Verbesserung" wurde bisher eher als Effektivierung angesehen. Umfang und Ausstattung der Streitkräfte sowie die Höhe der Militäretats werden weiterhin im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten bleiben. Außerdem wird jede Regierung für sich in Anspruch nehmen, dass sie bereits in der Vergangenheit ihre militärischen Fähigkeiten "schrittweise" verbessert habe und dies auch in Zukunft "schrittweise" tun werde. Ich halte diese Bestimmung gleichwohl weiter für politisch falsch und nicht für vertretbar.

8. Keine Einführung der Todesstrafe

Die Europäische Menschenrechtskonvention wird übernommen. Sie stammt aus dem Jahr 1950. Seit den fünfziger Jahren ist sie in der Bundesrepublik bereits in Kraft und unmittelbar geltendes Recht, also überhaupt nicht neu. Sie enthält viele wichtige Garantien von Menschen- und Verfahrensrechten. Sie lässt tatsächlich unter bestimmten Umständen die Todesstrafe zu. Dies war der Kompromiss zu diesem Punkt, der damals zum Zeitpunkt der Erarbeitung der EMRK, als es in mehr Ländern noch die Todesstrafe gab, erreicht werden konnte. Dies war jedoch für andere Staaten wie die Bundesrepublik inakzeptabel. Daher sind dann in der Folge zwei Zusatzprotokolle zur EMRK verfasst worden, mit denen die Todesstrafe unter allen Bedingungen abgeschafft wird. Dabei handelt es sich um das 6. und das 13. Zusatzprotokoll. Deutschland und eine Zahl der Europarats-Mitglieder haben diese beiden Protokolle unterzeichnet und ratifiziert. Damit haben sie sich zu einem höheren Schutz verpflichtet, als von der EMRK vorgesehen. Durch Art 102 Grundgesetz ist die Todesstrafe abgeschafft. Eine Wiedereinführung wäre nicht nur mit diesem Artikel, sondern auch mit Art. 1 GG nicht zu vereinbaren.

Resumee:

Durch den Vertrag von Lissabon wird die bisherige Rechts- und Vertragslage und die daraus entwickelte politische Praxis in Deutschland nicht wesentlich verschlechtert. Die geltenden EU-Verträge von Maastricht bis Nizza sind nicht besser, sondern in einigen Punkten wesentlich schlechter, weil die sozialen Rechte bei Ihnen noch viel mehr hinten anstehen, weil sie keine Grundrechtscharta und weit geringere Rechte für das Europäische Parlament enthalten. Militärische Aufrüstung und gemeinsame Militäreinsätze der EU-Staaten finden nach geltendem Vertragsrecht genauso statt wie sie nach dem Lissabon-Vertrag stattfinden können. Das geltende Vertragsrecht verhindert offensichtlich nicht einmal die Beteiligung an Angriffkriegen ohne UN-Mandat, wie sich an der Teilnahme einzelner EU-Staaten am Irakkrieg zeigt. Eine durchaus wünschenswerte Verbesserung des Vertrages von Lissabon ist nicht in Sicht. Neue Verhandlungen würden eher zu einer Reduzierung der sozialen Rechte führen. Das Grundgesetz wird durch die Verträge nicht abgeschafft. In seinem wesentlichen Gehalt, vor allem die Grundrechtsgarantien bleiben voll und einklagbar in Kraft. Das gilt auch für das allgemeine Völkerrecht. Militärische Einsätze der Bundeswehr bedürfen weiterhin der Zustimmung des Bundestages.

Aus diesen Gründen werde ich die Gesetzentwürfe nicht ablehnen."


Hans-Christian Ströbele