Gericht blockiert Ziele des Stasi-Unterlagengesetzes
24.06.2004: Presseerklärung zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts betreffend die Herausgabe von Stasi-Unterlagen zu Dr. Kohl
Zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts betreffend die Herausgabe von Stasi-Unterlagen zu Dr. Kohl erklärt Hans-Christian Ströbele, stellvertretender Vorsitzender: Der Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor illegalem Ausspähen nicht nur des persönlichen und privaten Bereichs mit geheimdienstlichen Mitteln wird durch das Urteil sehr hoch gewertet. Wir begrüßen diese hohe Wertschätzung rechtsstaatlicher Einschränkungen von Datenerhebungen durch staatliche Organe. Das Urteil verkennt aber, dass das Ziel des Stasi-Unterlagengesetzes ein anderes ist. Gerade auch die Arbeitsweise des MfS der DDR mit Mitteln der Spionage und rechtsstaats- und menschenrechtswidrigen Methoden sollte offen gelegt und der öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht werden. Wissenschaftler und Journalisten sollten alle Unterlagen nutzen, um das Wirken der Stasi umfassend aufzuarbeiten. Damit sollte vorgebeugt werden, dass nie wieder ein solcher Kontroll- und Unterdrückungsapparat wie die Stasi entsteht. Nur auf die Zusicherung hin, dass alle Akten frei zugänglich bleiben, waren die Bürgerrechtler, die die Stasi-Zentrale 1989 besetzt hatten, bereit gewesen, die Besetzung zu beenden. Kritisch ist vor allem die Ausdehnung des Herausgabeverbots auch auf Informationen zu sehen, die nicht den persönlichen, sondern den amtlichen und politischen Bereich betreffen. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum Unterlagen, die über die Tätigkeit des damaligen Bundeskanzlers und sein amtliches und politisches Wirken von der Stasi ausspioniert wurden, nicht Journalisten gegeben werden dürfen und damit die öffentliche Diskussion ermöglicht wird. Eine Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS und seiner Methoden, für die das Stasi-Unterlagengesetz geschaffen wurde, wird dadurch erheblich erschwert. Dies war und ist Ziel des Stasi-Unterlagengesetzes nach Auffassung aller Fraktionen, dem auch Dr. Kohl zugestimmt hatte. Das Urteil ignoriert auch die Intention des Gesetzgebers bei der letzten Änderung des Gesetzes, nämlich wenigstens die Unterlagen der Stasi der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die sich mit dem politischen Handeln und Denken von Regierung und Opposition befassen. Das Gericht hat diese Gesetzesänderungen offensichtlich nicht als verfassungswidrig angesehen und damit die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht vermieden, aber diese im Bemühen einer verfassungsgemäßen Auslegung uminterpretiert. Das Parlament sollte die Urteilsgründe dahin überprüfen, ob ein erneutes gesetzgeberisches Handeln angezeigt ist. Im Übrigen bleibt die Hoffnung, dass ein Journalist seine Rechte aus dem Gesetz auf Herausgabe von Stasi-Unterlagen einklagt und letztlich durch das Bundesverfassungsgericht klären lässt, ob die Uminterpretation durch das Bundesverwaltungsgericht entgegen dem Willen des Gesetzgebers mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das Urteil hinterlässt einen schalen Geschmack. Mehr als ein Jahrzehnt lang wurden vom MfS angelegte Unterlagen, auch die aus Spionage, IM-Informationen oder Telefonabhören entstandene, an Journalisten herausgegeben. Sie betrafen ehemalige DDR-Bürger und weniger Prominente aus dem Westen. Keines der Gerichte, die mit der Gesetzesanwendung befasst waren, hat dies beanstandet. Erst als es um die Akten ging, die Dr. Kohl betrafen, wurde das Stasi-Unterlagengesetze und die Herausgabepraxis in Frage gestellt.