Wahlkampf 2013

Halbzeitbilanz

31.10.2004: Zwei Jahre nach der Bundestagswahl zieht Hans-Christian Ströbele in einem Brief an die Bürgerinnen und Bürger in seinem Wahlkreis Bilanz

Liebe Bürgerin, lieber Bürger!

Erinnern Sie sich? Vor zwei Jahren fand die Bundestagswahl statt. Ich hatte mich um Ihre Erststimme im Wahlkreis Friedrichshain/Kreuzberg/Prenzlauer Berg Ost beworben. Zur großen Überraschung vieler erhielt ich mit 49 204 die meisten Stimmen im Wahlkreis. Das war im Vergleich mit der vorausgegangenen Bundestagswahl ein Zuwachs von fast 14 Prozent für grüne Kandidaten im Bezirk. Damit war ich direkt ins Parlament gewählt. Ich danke nochmals für das große Vertrauen. Die Hälfte der Legislaturperiode ist seither vergangen. Mit diesem Brief berichte ich, was ich in diesem Zeitraum getan habe, um Ihr Vertrauen zu rechtfertigen.

Dem Frieden verpflichtet

Das große Thema des Wahlkampfes vor zwei Jahren war der bevorstehende US-Krieg gegen den Irak. Rot/Grün hatte versprochen, sich nicht zu beteiligen. Ich hatte mich festgelegt, keinesfalls dem Einsatz deutscher Soldaten in diesem Krieg zuzustimmen. Manche hatten Zweifel, ob diese Versprechen auch nach der Wahl halten. Der Krieg wurde von den USA und ihren Verbündeten begonnen. Er ist noch nicht zuende. Täglich werden Menschen im Irak getötet oder durch Bomben verkrüppelt. Täglich werden große Zerstörungen angerichtet. Die angegebenen Kriegsgründe gab es nicht, weder Massenvernichtungswaffen noch Verbindungen zu Al Quaida. Das steht heute fest. Der Krieg war völkerrechtswidrig und falsch. Die Entscheidung war richtig, deutsche Soldaten nicht zu beteiligen. Wir haben unsere Versprechen gehalten. Kritiker meinten, die Bundesregierung hätte dem US-Militär auch die Nutzung ihrer Basen in Deutschland und die Überflugrechte verweigern müssen. Ich habe mich für solche Forderungen stark gemacht. Im Parlament wurde darüber aber nicht abgestimmt. Wichtiger war, dass Deutschland viel mehr getan hat, als keine Soldaten zu schicken. Der Bundesaußenminister hat entscheidend dazu beigetragen, dass in der UNO eine Mehrheit gegen den US-Krieg zustande kam. Das ist anzuerkennen. Es ist ein historischer Beitrag im Kampf gegen den Irak-Krieg und für die Friedenspolitik.

Auch im Rüstungsexportbereich haben wir uns bemüht, Vertrauen zu rechtfertigen. Die Hanauer Atomfabrik sollte nach China verkauft werden. Alles schien beschlossene Sache. Unser vielstimmiger Protest hatte Erfolg. Die Atomfabrik blieb in Deutschland. Ich habe mich in der Initiative "Hanau selber kaufen!" engagiert, einem Versuch, das Problem in der öffentlichen Diskussion zu halten.

Einmischen für soziale Gerechtigkeit

Der Umbau unserer sozialen Sicherungssysteme bestimmte die Diskussion und Politik in der ersten Hälfte der Legislaturperiode. Dieser Politikbereich gehört nicht zu meinen fachlichen Schwerpunkten im Bundestag. Gleichwohl habe ich mich kräftig eingemischt, zumal ich unzählige Anfragen und Proteste aus dem Wahlkreis dazu erhalten habe und vor der Wahl versprochen hatte, mich für mehr soziale Gerechtigkeit einzusetzen.

Die sogenannten Hartz-IV-Gesetze stellen den Höhepunkt des sozialen Umbaus dar. Ich war und bin für die geplante Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Sie bringt nicht für alle Betroffenen weniger Einkommen, sondern für einige mehr und für viele das Gleiche. Erhebliche Kürzungen erleiden die, die heute höhere Arbeitslosenhilfe erhalten oder deren Partnerinnen und Partner besser verdienen. Ich meine, dass sich die Zahlungen an Menschen ohne Erwerbsarbeit ungerecht entwickelt haben. Ich halte es für richtig, dass die Unterstützung aus Steuermitteln sich nach Bedürftigkeit richtet und grundsätzlich für alle betroffenen Personen gleich hoch sein sollte. Trotzdem habe ich am 19. Dezember vergangenen Jahres gegen die Hartz-IV-Gesetze im Bundestag gestimmt und bin zu Montagsdemonstrationen gegangen. Die Gesetze enthalten soziale Härten, die nicht richtig und auch nicht notwendig sind. Das ist beispielsweise die Anrechnung des Partnereinkommens, der Altersvorsorge und des Zuverdienstes beim Arbeitslosengeld II. Vor allem der Umstand, dass jeder Job zumutbar sein soll, egal wie niedrig der Lohn ist. Es war die CDU/CSU, die diese Härte ins Gesetz hineingezwungen hat. Es fehlen sozial verträgliche Übergangsregelungen. Ich nutze weiterhin alle meine Möglichkeiten im Bundestag und der grünen Partei, um Verbesserungen zu erreichen. Der Bundesparteitag der Grünen hat elf entsprechende Forderungen beschlossen. Ich versuche in Gesprächen mit Verantwortlichen und Betroffenen, für die Menschen im Wahlkreis mit seinen besonderen sozialen Problemen ausreichende Weiterbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen zu erreichen. Erfolge scheinen durchaus möglich, nachdem der Bund Finanzmittel zur Verfügung stellt, so dass unterm Strich die Hartz-Gesetze zunächst keine Einsparungen bringen.

Es bleibt für mich eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, auch die großen Vermögen zur Finanzierung staatlicher Aufgaben heranzuziehen, wie etwa der Bildung. So ist es in Frankreich, Spanien oder Schweden. In Deutschland wachsen die Vermögen der privaten Haushalte pro Jahr um bis zu 200 Milliarden Euro. Deshalb lasse ich allen Widerständen zum Trotz nicht davon ab, die Wiedererhebung der Vermögensteuer zu fordern und vorzubereiten.

Bürgerrechte und Entwicklungspolitik zur Friedenssicherung

Der Hauptteil meiner Arbeitskraft ist nach wie vor in der Innen- und Rechtspolitik gebunden. Das Zuwanderungsgesetz hat nicht das gebracht, was Grüne wollten. Immerhin ist anerkannt, dass auch "nichtstaatliche Verfolgung" und Verfolgung von Frauen, die sich nicht unterwerfen, Gründe sind, in Deutschland Schutz zu erhalten. Für Integration bleibt noch viel zu tun, gerade in einem Wahlkreis, in dem Menschen aus aller Welt zu Hause sind.

Dem Streben nach Sicherheit und den dafür angeblich notwendigen, immer neuen Gesetzen dürfen auch in Zeiten des Kampfes gegen den islamistischen Terror Rechtsstaat und Bürgerrechte nicht geopfert werden. Deshalb darf der Staat nicht im Intimbereich von Wohnungen abhören und das Mithören am Telefon muss auf Bereiche der Schwerstkriminalität beschränkt sein. Noch so viel Polizei, Geheimdienste und Überwachungsgesetze werden Anschläge nicht mit absoluter Sicherheit verhindern. Wenn wir bei völkerrechtswidrigen Angriffskriegen wie im Irak nicht mitmachen, sondern diesen entgegentreten, wenn wir uns für eine gerechtere Verteilung des Reichtums auf der Welt einsetzen, können wir mehr dazu beitragen, dass die Terroristen keinen Zulauf haben. Ich arbeite deshalb im Ausschuss für Entwicklungspolitik. Mit einer Bundestagsdelegation war ich mehrfach in Afrika, zuletzt in Ruanda und im Kongo, um zu lernen, wie wir einen Beitrag für Frieden und wirtschaftliche Entwicklung leisten können. Wir müssen hier bei uns anfangen. Zurückgekehrt von einer Reise aus Namibia, ehemals "Deutsch Süd-West-Afrika", habe ich mich im Bundestag für das Gedenken an den Völkermord eingesetzt, der dort von der deutschen "Schutztruppe" vor 100 Jahren an den Völkern der Herero und Nama begangen wurde. Wir haben auf dem "Garnisonsfriedhof", auf der Grenze von Kreuzberg und Neukölln eine Gedenktafel enthüllt. Ich habe Kritikerinnen und Kritiker der Globalisierung und Gruppen für die internationale Solidarität unterstützt, etwa beim Solibasar auf dem Alexanderplatz und Marx-Engels-Forum oder beim Weltfest am Boxhagener Platz.

In der zweiten Hälfte...

der Legislaturperiode wird das zentrale Gerechtigkeitsprojekt der Bürgerversicherung die Diskussion prägen. Es geht darum, die ganze Bevölkerung in die Krankenversicherung einzubeziehen, um die Lasten solidarisch entsprechend dem Einkommen zu verteilen. Als Bundestagsabgeordneter wird es mir ein Anliegen sein, die Folgen der beschlossenen Gesetze möglichst sozial gerecht für die Menschen im Wahlkreis zu gestalten. Die im Zuwanderungsgesetz versprochenen Integrationsmaßnahmen für Migrantinnen und Migranten, wie etwa Sprachkurse, müssen allen zugänglich sein. Weiterbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen für Arbeitslose nach den Hartz-Gesetzen müssen die besonderen Verhältnisse in den einzelnen Kiezen des Wahlkreises berücksichtigen. Und die vom Bund mitfinanzierten Ganztagschulen müssen so eingerichtet werden, dass nicht die gewachsene Angebotsvielfalt von Kitas, Schülerläden und Hortbetreuung auf der Strecke bleibt.

Ein besonderer Kiez

Ich versuche, als direkt gewählter Abgeordneter Lobbyist der Menschen im Wahlkreis zu sein. Ich nehme viele Termine vor Ort wahr und unterhalte zwei Wahlkreisbüros, eines in Kreuzberg in der Dresdener Straße 10 und eines in Friedrichshain in der Dirschauer Straße 13. Dort biete ich mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Bürgersprechstunden an und bemühe mich, im Rahmen der Möglichkeiten, die mir als Bundestagsabgeordneten gegeben sind, zu helfen. Wir sind nicht immer erfolgreich, aber konnten zur Lösung einiger Probleme beitragen.

Und gar nicht nur nebenbei setze ich mich auch dafür ein, dass neben dem Tempodrom auch der Palast der Republik so lange wie möglich für eine kulturelle Nutzung erhalten bleibt.

Ich will Ihnen Mut machen. Schreiben Sie mir, wenn Sie Fragen haben, Kritik äußern oder Anregungen geben wollen.

Auch im Wahlkreis stehen Veränderungen bevor, in Ost und West. Sein besonderer Charakter, sein außergewöhnliches Flair mit den alten und neuen, kulturellen, sozialen und alternativen Angeboten muss dabei erhalten bleiben.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Hans-Christian Ströbele