Wahlkampf 2013

Am Zusammenfluß von Grün und Oliv

20.12.2001: Artikel der Süddeutschen Zeitung zur Bundestagsentscheidung zur Entsendung deutscher Truppen nach Afghanistan

Am Zusammenfluss von Grün und Oliv

Hans Christian Ströbele im Spannungsfeld des Afghanistan- Krieges: "Ich mache viele Kompromisse, die mir schwerfallen"

Wegen der Zustimmung zum Bundeswehr-Einsatz stellen sich Friedensbewegte gegen den Strom - und erblicken neue Ufer jenseits von Rot-Grün

Von Holger Gertz, Süddeutsche Zeitung

Berlin , im Dezember - An der Bürotür hängt ein Computerausdruck, ein Satz von Pablo Casals, der geht so: Viele Leute scheinen von der fixen Idee besessen zu sein, dass nicht nur im Zirkus, sondern auch in der Musik, Malerei und Literatur nur noch die Clowns eine Chance haben. Der Zettel wirft Fragen auf. Es ist doch so, dass jemand Zitate an seine Tür klebt, um dem Eintretenden eine Ahnung davon zu vermitteln, welcher Geist ihn hinter dieser Tür erwartet, oder? Wenn es so ist, dann wird der Bewohner dieses Zimmers sich bestimmt jenem Casals verwandt fühlen, der ja, wie jeder weiß, Katalane war; ein Virtuose am Violincello, der sein halbes Leben im Exil zugebracht hat. Ein extremer Typ also, Pablo Casals, aber was will er sagen: dass er der Clown ist? Dass alle Clowns sind, alle außer ihm?

Hans-Christian Ströbele öffnet die Tür seines Büros, Luisenstraße 32 - 34, Berlin-Mitte, wo die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen wohnt. Er setzt sich auf sein kleines Sofa, die Wände sind mit Aktenordnern wie zugemauert. Ist er der Clown, oder sind es die anderen? "Was für ein Clown?", fragt Ströbele. Naja, dieser Zettel da an seiner Tür. Ströbele sagt, er kennt den Satz gar nicht richtig, er hat sich nicht mit ihm beschäftigt. Er bedeutet ihm also nichts. Er hat ihn ja noch nicht einmal selbst angeklebt, "das war bestimmt eine Mitarbeiterin hier aus dem Büro".

Aber jetzt, wo er darüber redet, dämmert ihm, dass man den Zettel leicht auf ihn beziehen kann, weil, als Clown sehen ihn ja viele, die von außen draufschauen auf diese grüne Partei. Einer, der sein eigenes Repertoire hat, sozusagen, aber trotzdem Teil des Gesamtprogramms bleibt. Ein Altlinker, wie manche sagen.

Wie das schon klingt, nach Staub, nach Museum, nach Gebrechlichkeit. Dabei sieht Ströbele, 62, auf seinem Sofa, mit dem offenen Hemd und der Jeans, jünger aus, beinahe wie damals, als aus einer alternativen Bewegung eine Partei wurde, die sagte: Nie wieder Krieg. Und jetzt, wo wieder Krieg ist, haben sie einen Parteitag abgehalten, bei dem die große Mehrheit für die Beteiligung an Militäreinsätzen gestimmt hat. Das ist nicht Ströbeles Position, er hat viel Applaus gekriegt für seine Kritik auf dem Parteitag, quer durch die Reihen, aber was bringt das? Längst habe seine Partei ihre Farbe verändert, schreiben die Kommentatoren: von grün zu oliv, armee-oliv.

Die zwei Mehrheiten

Ströbele sagt, das ist übertrieben, ein falsches Bild, wie das vom Clown. Vielleicht hängt er den Zettel an der Tür besser ab. Ein Artist ist er eher, der balanciert, mit Zahlen. Es soll nicht so aussehen, dass er irgendwo draußen steht. Er rechnet sich in die Mitte hinein, ins Zentrum seiner Partei. "Wir haben in vielen Kreisen und Landesverbänden doch Abstimmungen gehabt, bei denen sich achtzig Prozent gegen den Krieg ausgesprochen haben", sagt er. "Ich habe immer Positionen vertreten, die nicht immer der Mehrheit der Fraktion entsprachen, aber immer der Mehrheit der Partei", sagt er. Ein Artist auf einem Hochseil, der eine Stange trägt, links ein Gewicht und rechts eins, das muss irgendwie in der Waage werden, damit er selbst nicht runterfällt.

Wenn jetzt Hunderte die Partei verlassen, sagt er, er findet das bedauerlich, einerseits. Andererseits "ist die Koalitionsfrage sehr wichtig, das sehe ich auch." Wenn welche sagen, es wäre ehrlicher gewesen, die Grünen wären raus aus der Regierung, sagt er: "Der Wähler will eher, dass man etwas zu Ende macht und dann Bilanz zieht."

Aber Hans-Christian Ströbele, Abgeordneter und Rechtsanwalt, müsste schon ein Zauberer sein, um denen was vormachen zu können, die er trifft, wenn er U-Bahn fährt oder mit dem Fahrrad an der Ampel anhält. Sie erkennen ihn ja sofort, er ist so bekannt, jedenfalls in Berlin. Bei der Bundestagswahl 1998 holte er in Kreuzberg/Schöneberg 29 Prozent der Erststimmen. Und seinen Kopf vergisst man eh nicht, so markant wie er ist, anders als die vielen Glattgesichter im Parlament, mit den tiefen Falten und den buschigen Brauen, entfernt an den späten Klaus Kinski erinnernd, allerdings in freundlicherer Version. "Ich kann hinkommen, wo ich will, immer geht es um Krieg. Da sagen die Leute, dieses machst du falsch, das machst du richtig. Und sie sagen auch, du bist verantwortlich." Die Autonomen in der Stadt, die er lange kennt, weil er welche von denen schon verteidigt hat, hätten ihm ein Ultimatum gesetzt: dann und dann musst du raus sein aus der Partei. Er hat es verstreichen lassen. Freunde, erzählte er, haben gesagt: Wir verstehen nicht, wie du da weiter machen kannst. Er denkt manchmal darüber nach, ob er sich bei seinen Anwaltskollegen noch sehen lassen kann. "Ich mache viele Kompromisse, die mir schwer fallen."

Es klingt alles wie die Hinführung zu einem Punkt, der zugleich Gipfel und Schluss ist; als zähle einer absichtsvoll alle Qualen auf, die er zu ertragen hat, um schließlich die alles erklärende Antwort zu präsentieren, als Erlösung für sich selbst und Erklärung für die anderen.

Ströbele sagt, er macht noch immer Politik bei den Grünen, weil er hofft, dass eines Tages seine Position wieder die der Mehrheit sein wird, nicht nur an der Basis, auch in der Spitze. Das klingt, als Auflösung, ziemlich banal, vielleicht, weil es so abstrakt ist. Weil es Ausreden zulässt. Eines Tages, wann soll das sein? Und wenn, auf dem Weg dahin, die Amerikaner Unterstützung brauchen, um nicht nur Afghanistan von Terroristen zu reinigen? Eines Tages könnten Soldaten in Somalia gebraucht werden, im Irak.

Ströbele sagt, es gibt einen Punkt, an dem macht er nicht mehr mit. Der ist exakt verortet, wie eine Kugelschreibermarkierung auf einem Lineal. Er sagt aber nicht, wie weit es noch ist bis dahin, ob er noch nach Zentimetern zählt oder schon nach Millimetern.

Vielleicht gibt es eine Verbindung zwischen gestern und morgen, ein Scharnier, das alles zusammenbringt, seine Geschichte und die der Grünen, mit seiner Zukunft und der der Grünen. Die es vielleicht nicht gibt. Die Spur führt nach Genua, wo im Sommer der G-8-Gipfel stattfand und sich Gegner der Globalisierung mit Polizisten prügelten. Ströbele hat es anders formuliert, er sprach von Massaker-ähnlichen Übergriffen. Er hat damals deutsche Inhaftierte und Verletzte besucht; die Unterlagen nehmen inzwischen einigen Regalplatz ein in seinem Abgeordnetenbüro.

"Sehen Sie, da stehen die ganzen Akten": Genua steht darauf. In den Akten ist nur Papier, aber im Raum schwirren plötzlich Gefühle, Erinnerungen auch.

Damals, im Widerstand

Ströbele hat ja die Zeiten mitgemacht, als es noch um Widerstand ging und nicht um Koalitionsverträge. Hat zusammen mit Horst Mahler 1969 das erste sozialistische Anwaltskollektiv gegründet, Mitglieder der APO und der RAF verteidigt, sich die Füße müde demonstriert und die Kehle rau diskutiert. In die Rentenversicherung zahlte er nicht ein, weil er glaubte, früher oder später komme eh die Revolution. Jetzt schwärmt er von Genua. "Da waren junge Leute, die wochenlang da blieben, um sich um die Gefangenen zu kümmern. Das war so, wie ich das kannte, aus der APO-Zeit, so eine Solidarität. " Allerdings, in Genua trat auch eine Gruppe zum ersten Mal machtvoll in Erscheinung, die eine Alternative sein kann zu den Grünen. Viele Demonstranten in Genua waren Mitglieder des Netzwerks Attac, das eine ziemlich gute Öffentlichkeitsarbeit macht und seit Genua so was wie die Stimme derjenigen ist, denen die Welt, so wie sie ist, nicht gefällt.

Im Attac-Büro in Verden an der Aller sitzt Sven Giegold, Mitbegründer der deutschen Sektion: gegründet wurde das Netzwerk 1997 in Frankreich. Ein bisschen ist es so wie bei der Friedensbewegung, Anfang der Achtziger, an den grünen Wurzeln. Der Nährboden ist noch nicht ideologisch vergiftet. Giegold, 32, ein ernster, schwarz gekleideter Mensch, zählt auf, wer sich in Attac sammelt: Globalisierungskritiker, Gewerkschaften, Kirchen, Erwerbslose, Friedensbewegung, Frauenbewegung; er selbst kommt aus dem Umweltschutz, vom BUND. Giegold hat im Studium mit Erwachsenenbildung und Politik begonnen und dann "thematisch umgeschaltet", wie er das nennt: Wirtschaftspolitik, abgeschlossen mit einem englischen Master, das Thema seiner Doktorarbeit wird sein: "Die Regulierung von Steueroasen". Sein Schwenk in die Ökonomie, findet er, sei stellvertretend für die gesamte Bewegung: "Die alte Friedensbewegung hat gesagt: `Die Waffen nieder!` Von sozialer Ungleichheit als Ursache von Konflikten haben die in der Regel nicht gesprochen." Attac, sagt Giegold, trage den Gedanken einer "Volksbildungsbewegung" in sich: den Menschen die Zusammenhänge von Politik und Wirtschaft zu erklären. Giegold arbeitet ehrenamtlich, sein Geld verdient er mit Vorträgen, in denen es um die Ziele der Bewegung geht: Einführung einer Steuer für internationale Transaktionen, höhere Besteuerung von Kapitaleinkünften, Unterbindung von Steuerflucht, Entschuldung der dritten Welt, solche Themen.

Giegold will nicht oberflächlich über den Krieg reden, sondern im weitesten Sinne über dessen Hintergründe. Er sagt: "Der Westen hat seine Ressourcen nicht genutzt, den armen Ländern massiv zu helfen, sondern um seine Pfründe zu sichern. Die Entwicklungshilfe zum Beispiel wurde zurückgefahren."

Ströbele will nicht oberflächlich über den Krieg reden, sondern im weitesten Sinne über dessen Hintergründe. Er sagt: "Es kann nicht wahr sein, dass die Regierung Jahr für Jahr weniger Geld ausgibt für Entwicklungszusammenarbeit, wo das Gegenteil in dem Programm der Parteien steht."

Vom Grünen Ströbele ist Giegold nicht weit entfernt. Von der grünen Partei trennt ihn eine Welt. Giegold nennt sie "Fischer-Chöre": Politiker, die die Globalisierungsdebatte verschlafen haben, verkleidete Neoliberale. "Die Finanzpolitiker der Grünen, das ist ein bisschen FDP in Öko." Solche wie der Haushaltsexperte Oswald Metzger, über den schon Helmut Kohl gesagt hat: "Was der zum Haushalt vorträgt, könnten zum Teil auch wir vortragen."

Im Oktober, beim Gründungskongress von Attac, inzwischen 4000 Mitglieder stark, hat eine Frau geschrien, Daniel Cohn-Bendit solle hinausgeworfen werden, er sei "Vertreter einer rassistischen und kriegstreiberischen Partei". Davon redet Ströbele nicht. Er sagt, er sei beeindruckt gewesen, wie konzentriert den Reden gelauscht wurde. "Das war so ruhig wie früher, wenn Dutschke sprach". Manchmal klingt er wie ein Romantiker, wenn er erzählt, von damals und von dieser Zeit.

Von der taz zum Beispiel, deren Gründungsmitglied er war und in deren Aufsichtsrat er gesessen hat. Es gibt diese schöne Geschichte, dass Ströbele den durch Einheitslohn kurz gehaltenen taz-Redakteuren manchmal Frühstück vorbeigebracht hat. Natürlich gab es oft Krach, aber Ströbele sagt, er liest sie immer noch, die taz. Ende November stand ein großes Interview mit ihm im Blatt.

Giegold sagt, der taz mangle es an Substanz genau da, wo bei vielen Linken der Schwachpunkt ist. Der Wirtschaftsteil sei indiskutabel. Er liest die taz nicht. Giegold kann gnadenlos sein in seiner Kritik, unbestechlich wie ein Richter. Ströbele kann rührend wie ein Kind sein, wenn er die Aktenordner mit den E- Mail-Botschaften rauszieht, in denen ihm Menschen mitteilen, "mach weiter, wir brauchen dich". Sie sammeln das alles in seinem Büro, "um es für die Geschichte zu dokumentieren." Oder das Telefon klingelt, irgendein Landesverband ist dran, "die sagen, jetzt komm du doch zu uns, bei uns treten viele aus, wir brauchen so jemanden wie dich, der einen Abend lang mit uns über Friedenspolitik diskutiert." Er fährt dann hin, aber oft bringt das nichts.

Übertritte zu Attac

Nach dem Rostocker Parteitag rumpelt es an der Basis. Da denken sie über Alternativen nach, treten aus, zu Dutzenden, verweigern sich, weniger der kommunalen Ebene als der Bundespolitik. Die Grünen in Bochum zum Beispiel zahlen ihre Mitgliedsbeiträge erstmal auf ein Sperrkonto ein und wollen zur Bundestagswahl vielleicht mit einer offenen Liste antreten, auf der auch Nichtmitglieder kandidieren können. Vielleicht boykottieren sie den Wahlkampf auch. 200 Bochumer Grüne sind inzwischen übergetreten. Zu Attac.

Noch ist Attac ein Netzwerk, aber vielleicht wird es mal eine Partei. Ströbele sagt: "Was aus den Grünen wird, wenn es neue soziale Bewegungen gibt? Ich kann nur hoffen, dass die Grünen das dann nicht verpassen." Aber das sei dann auch nicht mehr sein Problem. Er klingt ein bisschen resigniert. Das kommt bei ihm eigentlich selten vor.

In Ströbeles Büro hängt ein Plakat von Gerhard Seyfried, dem berühmten Berliner Maler, dessen Poster früher in jeder alternativen Wohngemeinschaft pappten. Seyfried hat die ganze Szene gemalt, Straßendemonstranten und Polizisten und Latzhosenfrauen und Punker. Und dieses Wahlplakat hier für Ströbele, aus den Neunzigern, irgendwo trägt ein Männchen sogar ein Schwarz- Weiß-Porträt von Ströbele auf seinem T-Shirt. Das war fast eine kleine Revolution damals, weil die Grünen als Gegner des Personenkults eigentlich keine Köpfe auf ihren Wahlplakaten wollten.

"Schön, nicht?", fragt Ströbele, während er das Plakat betrachtet; so vieles ist darauf, dass man es hundertmal anschauen kann, und man findet immer was Neues. Zum Beispiel, dass keines der Männchen einen Antikriegsanstecker trägt. "Von Krieg waren wir damals noch ein ganzes Stück entfernt", sagt Ströbele leise, in diesem Weißt-du-noch-Tonfall.

Es ist ja schon ein ziemlich altes Plakat, aber ein aktuelles auch, denn man kann den Ströbele darauf kaum erkennen, so klein, wie er ist, ein Stecknadelkopf nur. Und wenn man zwei Schritte zurück tritt, geht er im Gewimmel unter.