Wahlkampf 2013

Interview Neue Westfälische Zeitung: Ströbele rechnet mit mehrjähriger Dauer des NSU-Prozesses

16.05.2013: In der Neuen Westfälischen äußert sich Hans-Christian Ströbele zu den Unterschieden zwischen dem NSU- und dem RAF-Prozess, zur Beteiligung der Öffentlichkeit und zur Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses.

Das volle Interview zum Nachlesen:

Herr Ströbele, Sie haben als Strafverteidiger in den 70er Jahren Angehörige der RAF verteidigt. Erkennen Sie Ähnlichkeiten zwischen dem NSU-Prozess und den damaligen Prozessen gegen die Rote Armee Fraktion?

HANS-CHRISTIAN STRÖBELE: Nein, eigentlich sehe ich da keine Ähnlichkeiten. Bis auf die Tatsache, dass es sich auch beim NSU-Prozess um ein Großverfahren handelt. Da ist das Prozedere durch die Strafprozessordnung vorgegeben. Bestimmte Anträge wie die zur Befangenheit des Gerichts muss man sofort am Anfang stellen, sonst sind sie "verfristet", wie es im Juristendeutsch heißt.

Diese scharfen Wortgefechte zwischen Verteidigung und Gericht gehören zum normalen Repertoire von Strafverteidigern?

STRÖBELE: Ja, das gab es vor allem in Großverfahren, früher auch in RAF-Prozessen, dass ein Richter oder auch alle wegen Befangenheit ablehnt wurden, wenn Gründe vorlagen. Das ist normal. Aber das ist natürlich sehr befremdlich für die Familien der Opfer, also für Menschen, die noch nie in solchen Strafprozessen waren und sich nicht mit der Prozessordnung beschäftigt haben.

Die Verteidigung bemängelt, dass die Öffentlichkeit nicht ausreichend hergestellt wurde.

STRÖBELE: Da hat das Gericht vor Beginn des Verfahrens meiner Meinung nach einen großen Fehler gemacht, als es nicht dafür sorgte, dass auch türkische Journalisten teilnehmen konnten. Das Bundesverfassungsgericht hat dann entschieden, dass das Prozessgericht ein ganz neues Auswahlverfahren einleiten kann. Hätten die Richter einfach bestimmten Journalisten zusätzlich im Gerichtssaal einen Platz gegeben, hätte es so ausgesehen, als ließen sie sich von der Politik unter Druck setzen. Denn der öffentliche Druck war ja enorm, ging sogar von Abgeordneten, der Bundeskanzlerin, dem türkischen Ministerpräsidenten aus. Hätten die Richter dem einfach so nachgegeben, hätte deshalb ein späteres Urteil angefochten werden können und der Prozess hätte vielleicht wiederholt werden müssen.

Wie lange wird dieser NSU-Prozess wohl dauern?

STRÖBELE: Das kommt sehr darauf an, was durch Angaben der Angeklagten alles geklärt werden kann. Da sich aber Frau Zschäpe nicht äußern will, schätze ich mal, dass der Prozess mehrere Jahre dauern wird. Allerdings glaube ich nicht, dass alle 600 Zeugen gehört werden, die in der Anklageschrift aufgeführt sind.

Ist es klug von Frau Zschäpe nicht auszusagen?

STRÖBELE: Es gibt einen wichtigen Grundsatz im Strafprozess: Das Schweigen eines Angeklagten darf nicht zu seinem oder ihrem Nachteil verwendet werden. Es gab schon Urteile, die sind aufgehoben worden, weil es nur mit einem Nebensatz auch darauf gestützt wurde, dass der Angeklagte nichts zur Sache gesagt hat. Es ist enorm wichtig, hier ganz penibel vorzugehen, denn all diese Gesetze haben ihren guten Sinn. Wenn sie nicht beachtet werden, besteht die Gefahr, dass der Prozess noch einmal ganz neu aufgerollt werden muss.

Frau Zschäpe hat selbst an den Morden nicht teilgenommen. Halten Sie auch einen Freispruch für möglich?

STRÖBELE: Welche Rolle Frau Zschäpe bei den zehn Morden, den zahlreichen Raubüberfällen oder anderen Straftaten tatsächlich gespielt hat, wird das Gericht zu klären haben. Einfach ist das nicht, weil es ja keine Tatzeugen gibt. Es ist aber die Frage, ob nicht zum Beispiel eine Mittäterschaft vorliegt. Wenn sie etwa den Wohnwagen zum Tatort gefahren oder im Hintergrund die Fäden gezogen hat, könnte dies der Fall sein. Ich halte eine Verurteilung wegen Brandstiftung, weil sie vermutlich ihre Wohnung angezündet hat, für wahrscheinlich. Das könnte sogar als versuchter Mord gewertet werden, denn in dem Haus soll sich ja noch eine Frau aufgehalten haben.

Sie sind ja einer der führenden Politiker im parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschuss: In welchem Verhältnis steht der Ausschuss zum Prozess?

STRÖBELE: Dem Gericht geht es um Schuld oder Unschuld der Angeklagten. Damit haben wir uns nicht näher beschäftigt. Wir haben zu klären versucht, ob ein Versagen der Sicherheitsbehörden vorgelegen hat, also der Verfassungsschutzämter, der Polizei und der Staatsanwälte. Das bejahe ich. Meines Erachtens hat es ein totales Versagen des Staates gegeben. Das werden wir in unserem Bericht auf wohl weit über tausend Seiten minutiös dokumentieren.

Kann man ausschließen, dass sich in Deutschland so eine Mordserie wiederholt?

STRÖBELE: Bisher kann ich das nicht versichern. Die Angst, die Empörung und die Sorge unter den Migranten, von denen viele übrigens deutsche Staatsbürger sind, verstehe ich. Sie ist begründet. Es ist unsere große Aufgabe, den Migranten in diesem Land persönliche Sicherheit zurückzugeben bzw. zu verschaffen.