Wahlkampf 2013

Bundestagsrede von Hans-Christian Ströbele zum Anhörungsrügengesetz

28.10.2004: Rede zur zweiten und dritten Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag, Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) (Drucksache 15/3706) und zur zweiten und dritten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) (Drucksachen 15/3966 und 15/4061)

Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dafür haben Sie uns nun heute hierbehalten und unsere Reden nicht zu Protokoll geben lassen:

(Zuruf von der CDU/CSU: Das können Sie doch immer noch tun!)

um zwölf Minuten zu nutzen - oder zu missbrauchen -,

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Oh!)

um das Bundesverfassungsgericht zu rügen. Herr Kollege Gehb, das hätten Sie uns ersparen können,

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen sowie bei Abgeordneten der SPD)

zumal Sie zum Abschluss gesagt haben, dass Sie diesem Gesetz zustimmen. Sie haben also überhaupt nichts gegen das Gesetz, über das wir hier reden, sondern Sie finden es gut und richtig gemacht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Eine Debatte ist doch kein Missbrauch! - Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wir hoffen, dass Sie uns Ihren Redebeitrag ersparen!)

Ich kann Ihnen dazu nur Folgendes sagen: Seien Sie doch dem Bundesverfassungsgericht dankbar! Ich bin dem Bundesverfassungsgericht immer wieder dankbar, wenn wir alle paar Wochen, alle paar Monate den Auftrag bekommen, die Bundesrepublik noch rechtsstaatlicher zu gestalten. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die Sie zitiert haben, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg dorthin; denn das Bundesverfassungsgericht hat uns ja nichts anderes aufgegeben, als eine gesetzliche Regelung in möglichst alle Prozessordnungen aufzunehmen, nach der die Bürgerinnen und Bürger immer dann, wenn das rechtliche Gehör - immerhin ein Verfassungsrecht - verletzt ist, die Möglichkeit haben, das geltend zu machen,

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Gibt es doch! Es gibt doch gar keine Lücke!)

sich darauf zu berufen und nicht warten zu müssen, bis das Bundesverfassungsgericht darüber entscheidet. Diese Möglichkeit gibt es dann nicht, wenn keine Rechtsmittel gegeben sind. Wir alle, die als Anwälte tätig gewesen sind, kennen doch eine ganze Reihe von Fällen, in denen Bürgerinnen und Bürger - seien es Strafgefangene, seien es Beschuldigte im Strafverfahren oder im Zivilverfahren - als Mandanten zu uns gekommen sind und gesagt haben: Hier bin ich mit einer Entscheidung völlig überrascht worden. Ich hatte ja überhaupt nicht die Möglichkeit, mich dazu zu äußern. - Das kann bis zu strafrechtlichen Verurteilungen und Freiheitsstrafen gehen, bei denen sich der Rechtsanwalt oder der Strafverteidiger verzweifelt fragt: Was kann ich da noch machen?

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das Bundesverfassungsgericht damit befassen!)

Der Kollege Hartenbach hat als Richter, der den Beruf jetzt nicht ausübt, im Ausschuss gesagt: Auch Richter wären manchmal dankbar - auch sie sind nur Menschen -, wenn ihnen die Möglichkeit gegeben würde, auf die Rüge hin, dass ein Gericht es unterlassen oder übersehen hat, einem Beschuldigten rechtzeitig die Möglichkeit rechtlichen Gehörs zu geben, das Verfahren zu verkürzen und möglicherweise eine Entscheidung zu korrigieren, sodass das Verfahren fortgeführt werden kann und dem Beschuldigten zu seinem Recht verholfen werden kann. Heute ist diese Möglichkeit für einen Richter, der sein Urteil einmal gefällt hat und das dadurch rechtskräftig geworden ist, nicht gegeben. Dagegen kommt er selber nicht mehr an.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist der Sinn der Rechtsordnung!)

Dieses Gesetz eröffnet jetzt diese Möglichkeit. Es soll nur für die Fälle gelten, in denen die jeweiligen Prozessordnungen keine Rechtsbehelfe vorsehen. Es trifft immer in den Fällen zu, in denen der Bürger oder die Bürgerin darauf angewiesen ist, das Fehlen des rechtlichen Gehörs auf diese Weise geltend zu machen. Dass das Bundesverfassungsgericht dadurch entlastet wird, ist ja richtig. Wir alle wollen, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht erst nach Jahren oder manchmal sogar erst nach einem Jahrzehnt oder noch länger gefällt werden können. Das heißt, es ist richtig und gut, dass das Bundesverfassungsgericht uns, dem Gesetzgeber, aufgegeben hat, hier eine Regelung zu schaffen, die den Bürgern möglichst schnell zu ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verhilft. Um das auch einmal auf Latein auszudrücken: Wir alle sollten "mea culpa" sagen, dass wir das nicht schon lange gesehen haben, dass wir nie darangegangen sind, das zu regeln, und dass es erst dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bedurfte, um dem Gesetzgeber auf die Sprünge zu helfen.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: 50 Jahre!)

Wir begrüßen dieses Gesetz und sind dankbar für die Arbeit, die im Justizministerium geleistet worden ist. Wir denken, wir haben hier ein gutes Gesetz, durch das vielen Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht verholfen wird. Das ist gut so. Deshalb sind wir alle für dieses Gesetz.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das war eine staatstragende Rede, Herr Ströbele!)