Wahlkampf 2013

Grünes Fachgespräch zur Reform des Strafverfahrens: Rechtstaatlichkeit muss Basis bleiben

27.04.2016: Die Strafprozessordnung (StPO) ist reformbedürftig. Darüber besteht vielfach Konsens. Schaut man aber genauer hin, gibt es eine Menge höchst strittiger Fragen. Vor allem: Wie kann das Interesse an effektiver Strafverfolgung einerseits und die Grundrechte der Beschuldigten andererseits angemessen gewahrt werden?

  
 

Vlnr: Marc Wenske, Richter am Oberlandesgericht des 1. Strafsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg, Wolfgang Scheibel, Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig, Hans-Christian Ströbele MdB, Dr. Till Steffen, Justizsenator in Hamburg, Dr. Ali B. Norouzi, Rechtsanwalt und Strafverteidiger © Grüne Bundestagsfraktion

Darum ging es im Fachgespräch, das Hans-Christian Ströbele MdB Ende April 2016 im Deutschen Bundestag mit den Experten Dr. Till Steffen, Justizsenator in Hamburg, Wolfgang Scheibel, Präsident des Oberlandesgerichts (OLG) Braunschweig, Dr. Ali B. Norouzi, Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Mitglied des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins, sowie Marc Wenske, Richter in einem Strafsenat am OLG Hamburg und Vertreter des Deutschen Richterbundes, führte.

Bereits im Jahr Im Jahr 2014 hatte der Bundesjustizminister eine Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens eingesetzt. Im Oktober 2015 hat die Kommission ihren Bericht vorgelegt. Auf Grundlage des Expertenberichts, bei dem manche mehr Stillstand als Reform sehen, will das Bundesjustizministerium einen Referentenentwurf vorlegen.

Im Fachgespräch wurden fünf beispielhafte Reformaspekte diskutiert:

  • Audiovisuelle Aufzeichnung im Vorverfahren (Ermittlungsverfahren) und der Hauptverhandlung
  • Ausbau der Verteidigerrechte im Vorverfahren
  • Gesetzliche Regelung für V-Leute-Einsatz
  • Einschaltung eines Richters vor Blutprobenentnahmen bei Verkehrsdelikten
  • Schaffung zusätzlicher Wiederaufnahmemöglichkeit bei abgeschlossenem Strafverfahren.

Audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung noch strittig

Während über eine Einführung audiovisueller Dokumentation von Vernehmungen im Vorverfahren, jedenfalls bei gravierenden Tatvorwürfen oder schwieriger Sach-und Rechtslage, grundsätzlich Konsens bestand, gab es im Hinblick auf die Aufzeichnung der Hauptverhandlung unterschiedliche Einschätzungen. Aus anwaltlicher Sicht ist die Dokumentation der Hauptverhandlung ein zentraler, längst überfälliger Reformpunkt. Nur so könne der Beweisstoff umfassend gesichert und Streit z.B. über den Inhalt von Aussagen vermieden werden.

Bei langen Hauptverhandlungen seien die Einzelheiten auch für noch so professionelle Prozessbeteiligte schwer präsent zu behalten; auf Mitschriften etwa der Tatrichter sollte man als Dokumentation nicht beschränkt sein. Der große Gestaltungsspielraum des Gerichts wurde ebenso angesprochen wie ein aus der audiovisuellen Aufzeichnung sich ergebender disziplinierender Effekt. Tatsächlich sei es derzeit so, dass nur entsprechend situierte Angeklagte sich eine durch professionelle Stenographen unterstützte Verteidigung leisten könnten.

Ein allseits gesehenes Problem bei voller Dokumentation der Hauptverhandlung ist, dass dann der gesamte Inhalt der Dokumentation zum Revisionsgegenstand und damit die Revisionsinstanz sozusagen zu einer zweiten Tatsacheninstanz werden könnte. Dem ließe sich aber zumindest perspektivische durch entsprechende Gestaltung des Revisionsrechts entgegenwirken. Neben diesem Punkt und den Kosten für die Landesjustizverwaltungen, müssten mögliche Auswirkungen einer audiovisuellen Aufzeichnung auf das Zeugenverhalten und der sichere Umgang mit den Daten im Hinblick insbesondere auf den Persönlichkeitsschutz geklärt und gewährleistet sein.

Kritisch angemerkt wurde auch, dass die in den USA traditionelle Wortprotokollierung bei Strafverfahren keineswegs eine Garantie für Wahrheitsfindung und gegen Fehlurteile sei, Technik nicht vor allen Fehlern bewahre. Vorgeschlagen wurde Abhilfe durch bessere Personalausstattung bei komplexen Strafverfahren und als Übergangslösung zumindest ein stenografisches Wortprotokoll. Von Seiten der Justizverwaltung wurde betont, dass sich die Justiz unbeschadet zu klärender Probleme dem technischen Fortschritt nicht entziehen könne. Das gelte beispielsweise auch für die geplante elektronische Akte im Strafverfahren. Erwähnt wurde schließlich, das sich bei Zeugenvernehmungen vor Bundestags-Untersuchungsausschüssen der neben dem stenografischen Protokoll zum Zwecke der wörtlichen Protokollierung zulässige Tonmitschnitt bewährt habe, während weitergehende Ton-und Filmaufnahmen eine qualifizierte Mehrheit und die Zustimmung der Zeugen voraussetzen.

Ausbau von Verteidigerrechten im Vorverfahren

Eine Normierung der in der Praxis vielfach ohnehin bereits üblichen Anwesenheitsmöglichkeit von VerteidigerInnen bei z.B. polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen fand überwiegend Zustimmung. Das dürfe aber für kleinere Kanzleien nicht zu einem Nachteil werden. Eine volle Dokumentation von Vernehmungen im Ermittlungsverfahren wurde erneut als rechtsstaatlicher Gewinn bewertet, da dann Aussagen im Wortlaut und nicht allein anhand einer Wiedergabe des Ausgesagten durch die Vernehmenden nachvollziehbar seien. Gesetzliche Grundlage für V-Leute-Einsatz Unbeschadet der Grundfrage, ob V-Leute notwendig sind, ob ihr Einsatz eher schadet (wie im NSU-Komplex) oder auch nutzen kann, bestand Einigkeit darüber, dass in der Strafprozessordnung (StPO) der V-Leute-Einsatz, der vielfach zu Eingriffen in Persönlichkeitsrechte führt, ausdrücklicher gesetzlicher Grundlage bedarf. Das bisherige Stützen des V-Leute-Einsatzes auf die Ermittlungsgeneralklausel der StPO in Verbindung mit bloßen Verwaltungsvorschriften ist jedenfalls rechtsstaatlich unzureichend.

Sowohl die maßgebenden Kriterien des Einsatzes als auch der Auswahl von V-Leuten gehören in das Gesetz. Klargestellt werden müsse z.B., ob beim Einsatz sogenannte "szenetypische" Straftaten begangen werden dürften. Die vom Bundesjustizministerium eingesetzte Reformkommission hatte sich für ein Verbot der Tatprovokation ausgesprochen, während in bisher bekanntgewordenen Regelungsvorschlägen ein Verbot nicht enthalten ist.

Aus Sicht der Vertreter von Justizverwaltung und Strafjustiz könne in manchen Deliktsbereichen auf V-Leute nicht völlig verzichtet werden. Ein restriktives Herangehen sei aber geboten. Jedenfalls müsse der Kernbereich privater Lebensführung mindestens gleichwertig wie bei strafprozessualer Kommunikationsüberwachung geschützt sein. Dass eine Verurteilung allein Aufgrund von Angaben eines V-Mannes oder V-Mann-Führers erfolge - so eine weitere Äußerung - sei im Übrigen in der Praxis höchst unwahrscheinlich.

Richtereinschaltung vor Blutprobenentnahmen bei Verkehrsdelikten verzichtbar

Ebenso wie die StPO-Kommission des Bundesjustizministers hielt ein Teil der Experten die Einschaltung eines Richters für verzichtbar angesichts der geringen Eingriffstiefe und weitgehenden Ungefährlichkeit der von einem Arzt vorzunehmenden Blutprobenentnahme und Begrenzung auf Verkehrsdelikte. Voraussetzung sei aber die Gewährleistung einer rechtsstaatlich einwandfreien Dokumentation des Vorgangs bei der Polizei.

Gleichwohl dürfe dieser bei den Verkehrsdelikten aus praktischen Gründen zu rechtfertigende Verzicht auf den sogenannten Richtervorbehalt nicht zu einem Einfallstor für weitergehende Einschnitte in Fällen führen, in denen die Einschaltung eines Richters als "neutraler Wächter" nicht schon unmittelbar durch die Verfassung (wie bei Wohnungsdurchsuchungen oder Freiheitsentziehungen), sondern durch das einfache Gesetz zum Schutz von Grundrechten vorgegeben und notwendig sei.

Zusätzliche Wiederaufnahmemöglichkeit abgelehnt

Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens zu Lasten eines Angeklagten ist aufgrund des Strafverfahrensrechts, des Grundgesetzes, der Europäischen Grundrechtecharta und der StPO nur unter sehr engen Voraussetzungen möglich. In nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren hingegen können bei neuen Erkenntnissen und noch nicht eingetretener Verjährung die Ermittlungen jederzeit wieder aufgenommen werden. Ob aufgrund wissenschaftlich-technischer Entwicklung mögliche neue Erkenntnisse (z.B. DNA-Spuren), die möglicherweise einen freigesprochenen Angeklagten überführen könnten, bei nichtverjährten Taten eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens zugelassen werden sollte, wurde breit diskutiert. Alle Experten vertraten einhellig die Auffassung, auch für derartige Fälle keine zusätzliche Wiederaufnahmemöglichkeit zu schaffen. Das grundrechtliche Verbot mehrfacher Strafverfahren in gleicher Sache stehe dem entgegen. Eine Öffnung sei im Übrigen rechtsstaatlich nicht hinreichend bestimmt begrenzbar. Wie auch bei Beweisverwertungsverboten und Zeugnisverweigerungsrechten bestehe hier eine rechtsstaatlich nicht disponible Grenze, auch wenn das im Einzelfall etwa für Angehörige eines Verbrechensopfers höchst schmerzhaft ist.