Wahlkampf 2013

Bericht über die Reise nach Nicaragua

24.05.2010: Bericht zur Einzeldienstreise nach Nicaragua vom 11. bis 16. April 2010 zur Regionalkonferenz Lateinamerika und Karibik des DED (Deutscher Entwicklungsdienst) und zu politischen Gesprächen sowie Projektbesuchen.

  

11. April, 19.30 Uhr: Ankunft in Managua, Transfer zum Hotel Colonial Granada

12. April: Eröffnung der Regionalkonferenz

In Anwesenheit des Vizeaußenministers Nicaraguas Vildrack Jaentschke und der deutschen Botschafterin Frau Dr. Bettina Kern eröffnete ich als ältestes Mitglied des DED-Verwaltungsrates die Konferenz, weil der Vorsitzende des Verwaltungsrates, Dr. Runge, zwei Wochen vorher überraschend verstorben war.

Die Konferenz gedachte zunächst des Verstorbenen und seines langen hervorragenden Engagements für die Entwicklungszusammenarbeit.

An der Regionalkonferenz nahmen VertreterInnen von InWent sowie DED-Landesdirektoren und EntwicklungshelferInnen aus acht Ländern Lateinamerikas und der Karibik, ein Mitarbeiter des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) sowie MitarbeiterInnen der DED-Zentrale und des Verwaltungsrates teil.

Zusammenlegung der staatlichen Entwicklungsorganisationen

Eines der beiden Hauptthemen der Regionalkonferenz war der geplante Zusammenschluss von DED, GTZ und InWent.

Der Vertreter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Herr Klein, berichtete aus der Arbeit einer Vorbereitungsgruppe des Ministeriums, dass noch vor der Sommerpause ein Konzept verabschiedet und im Herbst ein Umsetzungsvertrag erarbeitet werden solle, der am Beginn des nächsten Jahres in Kraft trete. Er erläuterte 15 Punkte zur Zusammenlegung, die derzeit diskutiert werden. Wichtig sei, dass das Entwicklungshelfergesetz Gültigkeit behalte und Berücksichtigung finden werde.

Der Geschäftsführer des DED, Dr. Wilhelm, berichtete ergänzend von den Gesprächen der drei betroffenen Organisationen mit Minister Niebel und Vertretern des Ministeriums, die weitgehend konsensual verlaufen seien. Demnach sollen die Standorte im Wesentlichen erhalten bleiben, auch die Anzahl der EH-Jahre fortgeschrieben und Personal nicht abgebaut werden.

Am Nachmittag wurde in Arbeitsgruppen über die Zusammenarbeit mit InWent und GTZ sowie über Vorschläge für eine optimierte Außenstruktur diskutiert.

Interessant war für mich als Mitglied des Verwaltungsrates und für die Diskussionen im Bundestag, dass keiner und keine der anwesenden DED-Mitarbeitenden sich grundsätzlich gegen die Zusammenlegungspläne aussprach. Es wurden auch keine Besorgnisse über mögliche nachteilige Folgen der Zusammenlegung geäußert. Einige erzählten sogar von eigenen Erfahrungen aus der Arbeit vor Ort, die auch für den Zusammenschluss sprechen. Allerdings wurde auch immer wieder betont, dass es sehr auf die Bedingungen und Einzelheiten in der Gestaltung der Fusion ankomme.

Positiv wurde die Forderung aufgenommen, dass das Besondere des DED, die nicht auf Gewinn und Erwerb ausgerichtete Tätigkeit der EntwicklungshelferInnen und deren von staatlichen Zwängen weitgehend unabhängige Stellung, im Interesse einer Entwicklungszusammenarbeit, die von täglichen außenpolitischen Zwängen unabhängig und unterschwellig funktioniert, erhalten bleiben und auch vertraglich abgesichert werden solle.

Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Bereitschaft der Mitarbeitenden vorhanden ist, sich auf die neue Entwicklung einzulassen und zu ihrem Gelingen beizutragen.

13. April: Das Programm "Weltwärts"

Die Konferenz wurde fortgesetzt mit Vorträgen und Diskussionen zur Zusammenarbeit mit InWent sowie zum angelaufenen "Weltwärts"-Programm der Bundesregierung. Das Programm ist angelaufen und soll mit der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit in Deutschland verknüpft werden. Es soll ausgeweitet werden. Im Jahr 2010 sollen ca. eintausend Freiwillige unterwegs sein.

Am Ende der DED-Jubiläumsfeier am Mittwochabend traf ich auf ein Dutzend junger TeilnehmerInnen des "Weltwärts"-Programms. Leider konnte ich mit Ihnen nur kurz diskutieren. Trotzdem konnte ich erfreut in ihren kritischen Fragen und Diskussionsbeiträgen zur Arbeit des DED bemerkenswert viel vom Engagement und Geist des DED der Gründungsjahre bemerken.

Am Nachmittag wurde nach einem Impulsreferat zu Klima und Energie zu diesem Thema in vier Arbeitsgruppen diskutiert.

"Der Bürgermeister ist auf der Flucht !" - Randale in Granada

An diesem Tag wurden wir Zeugen politischer Unruhen auf der wenige Meter entfernten Plaza und unmittelbar vor unserem Hotel. Bereits am frühen Morgen war ich geweckt worden durch laute Böllerschüsse auf der Straße, durch Revolutionslieder aus überlauten Lautsprecherboxen und immer wieder viel Geschrei und Stimmengewirr. Zunächst blieb offen, was eigentlich im Gange war. Gegen acht Uhr morgens war ich auf der Plaza und sah vor dem Bürgermeisteramt an vielen Stellen brennende Reifen mitten auf der Straße. Eine Menschenmenge von überwiegend Jugendlichen rannte mit lauten Rufen mal über den Platz, mal durch die angrenzenden Straßen. Es waren ca. einhundert Personen. Einige warfen mit dicken Pflastersteinen und vereinzelte schossen laute Feuerwerkskörper aus selbstgefertigten Schießgeräten. Sie legten auch Reservehaufen von Steinen rund um die Bäume an.

uf dem Dach des Bürgermeisteramtes bemerkte ich zwei Vermummte, die eine Fahne schwenkten. Die Leute sahen mich, aber schienen mich nicht zu beachten. Daran, dass ich eine rote Schirmmütze gegen die heiße Sonne trug, kann es nicht gelegen haben. Selbst als ich anfing, alles Mögliche um mich herum zu fotografieren, störte dies offensichtlich niemanden. Auffällig war, dass eine Gruppe von uniformierten Polizisten, die am Anfang der Straße zu unserem Hotel standen und diskutierten, nichts unternahmen.

Ich versuchte in Erfahrung zu bringen, worum es ging. Aber alle, die ich ansprach, sprachen nur Spanisch und verstanden mein Englisch nicht. Aus Plakaten und Rufen entnahm ich, dass sich die Demonstranten gegen einen Teil der Taxifahrer, die am Vortag sehr zahlreich herumgestanden hatten, wandten und diese mit Steinwürfen verjagten. Insbesondere richteten sich die Proteste gegen den Bürgermeister. Er sei korrupt und ein Verbrecher, entnahm ich den Brocken spanischer Sprache, die ich verstand.

Einige Autos auch direkt vor unserem Hotel wurden erheblich beschädigt. Verletzte Menschen sah ich keine. Die meisten TeilnehmerInnen der DED-Konferenz mieden die Straße und blieben im Hotel. Ich erfuhr, dass ein für den Mittag geplantes Gespräch mit dem Bürgermeister abgesagt wurde. "Der Bürgermeister ist auf der Flucht" hieß es. Mir wurde berichtet, dem Bürgermeister werde vorgeworfen, dass er Gehälter an Angestellte nicht auszahle und über hundert Taxifahrern eine Lizenz für die Stadt gegeben hätte. Er habe dafür Geld erhalten und die neuen Taxis seien jetzt eine große Konkurrenz für die bisherigen Taxis der Stadt. Noch vormittags ebbten die Unruhen ab. Das Feuer vor dem Bürgermeisteramt glomm nur noch. Als ich nachmittags von einem Besuch der Markthalle zurückkam, war die Auseinandersetzung aber wieder in vollem Gange. Es beteiligten sich viel mehr Jugendliche. Es waren mehrere Gruppen, insgesamt vielleicht 150 Personen. Einige hatten Knüppel dabei und viele trugen dicke Pflastersteine. Wieder prasselten Steinhagel.

Wem genau sie galten, war nur schwer auszumachen. Wieder wurden Feuerwerksköper abgeschossen. Ich jedenfalls konnte mich in und zwischen den Gruppen bewegen, ohne dass mich einer auch nur bedrohlich ansah - mit der roten Kreuzberger Schirmmütze auf dem Kopf. Außerdem liefen ein halbes Dutzend Journalisten herum, filmten völlig ungehindert das Geschehen und interviewten Umstehende. Ich stellte mich zeitweise dazu, um mehr über die Hintergründe zu erfahren.

Unmittelbar neben mir versuchte ein Dutzend Jugendlicher, einen PKW umzuwerfen. Sie hatten das Fahrzeug schon aus der Parkreihe herausgezogen und versuchten es zu kippen. Aber das gelang nicht gleich. Ein Polizist in Uniform trat hinzu und sagte irgendetwas, vermutlich, sie sollten das sein lassen. Ich verstand nichts Genaues. Jedenfalls ließen sie von ihrem Vorhaben ab und zogen den PKW in eine Seitenstraße. Zu dieser Zeit waren nur vereinzelt Polizisten auf der Plaza zu sehen. Unter den Protestierern waren auch Ältere, die mit den Jugendlichen heftig diskutierten. Im Laufe des Nachmittags wurde die Lage dann ruhiger.

Später in Managua wurde mir das Geschehen dahingehend erläutert, dass der Bürgermeister von Granada ein "Liberaler" sei, gegen den die Sandinisten heftige Vorwürfe der Korruption und Bestechlichkeit erhoben haben. Die Lizenzen für die zusätzlichen Taxis seien ein Beispiel, weil sie durch Zahlungen an den Bürgermeister erworben wurden. Deshalb richte sich der Volkszorn gegen den Bürgermeister und solche Taxifahrer. Die einen behaupteten, das Ganze sei - wie immer häufiger im Land - organisiert von Sandinisten, die damit "ihr politisches Süppchen kochten" und die Opposition terrorisierten.

Andere sahen die perspektivlose Lage der arbeitslosen Jugendlichen, deren Wut sich gegen korrupte Politiker richte. Einheitlich berichteten alle, dass solche Ereignisse immer häufiger in Nicaragua vorkommen und viel über die Atmosphäre im Land aussagen.

Am nächsten Tag wurde mir berichtet, dass über das Geschehen in Granada in den Medien ausführlich berichtet worden sei. Am Abend nahm ich an einem Abendessen teil, das die deutsche Botschafterin für die TeilnehmerInnen der DED-Regionalkonferenz in ihrer Residenz in Managua gab, mit ausführlicher Gelegenheit zum Austausch.

14. April: "Land in angespannter Atmosphäre" - Politische Informationsgespräche

Am Vormittag informierten mich die seit vielen Jahren in Nicaragua tätigen Mitarbeiter von Medico International, Dieter Müller und Wolfgang Schütz, im Hotel in Managua über ihre Sicht der politischen Situation Nicaraguas.

Nachmittags wurden die Informationen ergänzt durch den deutschen Betreuer des Entwicklungsprojektes "San Rafael del Sur", der ebenfalls seit vielen Jahren in Nicaragua lebt. Diese und andere informelle Gespräche, etwa mit langjährigen DED-MitarbeiterInnen in Nicaragua, dienten auch der Vorbereitung der Treffen am Freitag mit Abgeordneten des Parlaments.

Laut den Berichten ist die politische Atmosphäre im Land angespannt. Präsident Ortega kandidiert erneut bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2011, obwohl die Verfassung die unmittelbare Wiederwahl und eine dritte Amtszeit verbietet. Dies wurde möglich gemacht durch eine äußerst zweifelhaft Zustande gekommene Entscheidung von Richtern des Obersten Gerichthofes. Weitere Vorwürfe sind, die regierenden Sandinisten hätten Wahlfälschungen bei den Regionalwahlen im März dieses Jahres begangen und sandinistische Stoßtrupps würden sogar oppositionelle Versammlungen angreifen und Menschenrechtsaktivisten bedrohen.

Kritisiert wird auch die öffentlich zelebrierte Umarmung des früheren Hauptgegners, des Kardinal Obando y Bravo durch Präsident Ortega sowie der politische Pakt mit dem Kardinal und der katholischen Kirche. Wohl als Folge sei jegliche Abtreibung, auch bei medizinischer Indikation, unter hohe Strafdrohung gestellt worden. Und Präsident Ortega präsentiere sich überall im Land auf Transparenten im weißen Gewand als Heiliger, um zugleich sozialistisch wie auch christlich zu wirken.

Die drei "liberalen" Parteien versuchten als wichtigste Oppositionsparteien über ideologische und persönliche Gräben hinweg sich auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten für die Präsidentenwahl im nächsten Jahr zu einigen. Dieses Vorhaben werde aber dadurch konterkariert, dass sich der frühere Präsident Aleman, der wegen Korruption verurteilt wurde, inzwischen als liberaler Kandidat ausgerufen habe.

Programme wie das einer Armutsbekämpfung oder Alphabetisierung der erwachsenen Bevölkerung haben die Sandinisten zwar durchgeführt, aber über deren Erfolg wird gestritten. Die Lage der inneren Sicherheit wird allgemein als wesentlich besser beurteilt als in anderen Staaten Mittelamerikas wie Guatemala, El Salvador oder Honduras. Besonders heftig ist die Kritik am engen Bündnis Ortegas mit dem Präsidenten Venezuelas, Hugo Chávez, und dem Umgang mit dessen Zuwendungen in Höhe von jährlich ca. 500 Millionen US-Dollar an Nicaragua.

Die Bedingungen des Geldflusses und die Verwendung dieser Gelder, die im nationalen Haushalt nicht auftauchen, seien völlig intransparent und nicht demokratisch kontrolliert. Es gebe den Verdacht, dass die venezolanisch-nicaraguanische Firma ALBANISA, über die die Zahlungen laufen sollen, von der Familie Ortega kontrolliert werde und dass diese Gelder zur Bedienung der eigenen Klientel und zur Ansammlung großer Reichtümer missbraucht werden.

Städtepartnerschaft: Kreuzberg - San Rafael del Sur

Der Berliner Stadtteil Kreuzberg und San Rafael del Sur pflegen seit vielen Jahren eine enge Städtepartnerschaft, die auch durch Besuche und Gegenbesuche belebt wird.

Als Abgeordneter des Wahlkreises, in dem auch Kreuzberg liegt, habe ich ein besonderes Interesse am Erfolg der Entwicklungsprojekte in dieser Region, die auch vom Bezirksparlament unterstützt werden. In der Nähe der Stadt besuchten wir auf dem Land ein Fortbildungsprojekt für Frauen im landwirtschaftlichen Bereich. Wir trafen auf ca. 60 Frauen, die sich oben auf dem Berg unter Bäumen versammelt hatten. Wir wurden erwartet und freudig begrüßt. Mehrere Frauen berichteten, dass sie endlich als Erwachsene Lesen und Schreiben gelernt hatten, Beispiele des Erfolges des Alphabetisierungsprogramms.

In der Stadt wurden wir vom Bürgermeister empfangen. Er war als Sandinist mit knapper Mehrheit in März wiedergewählt worden. Mit ihm diskutierten wir die angesprochenen Hilfen aus den Zuwendungen Venezuelas. Er sah keinen Grund zur Kritik. Seine Stadt habe ohne große Schwierigkeiten Geld erhalten, um einige hundert Wohnungen zu bauen. Mit deutscher Hilfe wurden Schulen gebaut und die Versorgung mit Trinkwasser sichergestellt. Wir besichtigten zwei Wasserreservoire. Eines war bei meinem Besuch vor Jahren noch undicht gewesen. Jetzt sind beide in Ordnung. Wir wurden darauf hingewiesen, dass der deutsche Bundespräsident auch schon dort gewesen sei. Insgesamt scheinen die Entwicklungsprojekte weiter erfolgreich zu sein. Alle GesprächspartnerInnen waren zuversichtlich.

30-Jahre-DED-Feier

Am Abend nahm ich an der DED-Nicaragua-Feier in Granada teil. Der DED feierte mit allen MitarbeiterInnen und TeilnehmerInnen der Regionalkonferenz sowie zahlreichen Gästen sein 30-jähriges Engagement in Nicaragua mit der berühmten Musikgruppe Godoy.

15. April: Das Erfolgsprojekt "El Tanque"

Am frühen Morgen brach ich mit den erwähnten Mitarbeitern von medico international zu einem Besuch des Ortes Posoltega und der Siedlung "El Tanque" auf.

Dieser Besuch hat eine Vorgeschichte: Im März 1999 hatte ich den Ort schon einmal besucht, damals mit einer kleinen Delegation des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Deutschen Bundestages. Einige Monate vor dem Besuch wurde Nicaragua von dem schweren Wirbel- und Regensturm "Mitch" heimgesucht, der schwere Zerstörungen hinterließ. Ein Hang des Vulkanberges "Casita" war abgerutscht, der mit seinen Schlamm- und Geröllmassen Tausende von Menschen, sogar ganze Dörfer verschüttete. Weit über zweieinhalbtausend Menschen starben.

Staatsmänner aus vielen Ländern, sogar der damalige US-Präsident Clinton, kamen und bekundeten ihr Beileid. Deutschland sagte Soforthilfe zu, damit die Überlebenden ein neues Zuhause und eine neue Existenz finden konnten. Alles hing davon ab, dass der damalige Präsident Aleman sein Versprechen wahrmachen und den Angehörigen der Opfer staatliches Land geben würde. Ohne Land gab es keine neuen Häuser. Die Menschen warteten lange vergeblich. Beim Besuch der deutschen Delegation beklagten sie sich bitterlich, weil sie fast ein halbes Jahr nach der Katastrophe immer noch in zerrissenen Zelten ohne jegliche Perspektive lebten. Sie hatten schon begonnen, unbebautes Land zu besetzen. Kurz vor dem Abflug der Delegation aus Managua forderten wir auf einer Pressekonferenz am Flugplatz von Präsident Aleman die Erfüllung seines Versprechens inklusive der Landvergabe. Wir drohten damit, sonst der Bundesregierung empfehlen zu müssen, den Schuldenerlass für Nicaragua auf der kurz danach stattfindenden Geberkonferenz abzulehnen. Am nächsten Tag berichteten alle Zeitungen Nicaraguas auf den Titelseiten davon.

Die damalige Bundesregierung schloss sich unserer Forderung an und gab sie an ihre Verhandlungsdelegation weiter. Wenige Wochen später bekamen die "Mitch"-Opfer ihr Land aus brachliegendem Staatsbesitz; zwar in der Nähe des Vulkans, aber doch so weit weg, dass sie nicht mehr gefährdet sind. Die deutschen Hilfsgelder wurden von medico international sofort und sinnvoll eingesetzt.

Jetzt wollte ich sehen, was aus dem Entwicklungsprojekt geworden ist: Zunächst besuchten wir ein großes Denkmal im nachgewachsenen Wald am Hang des noch qualmenden Vulkans Casita. Von der damaligen Schlammlawine war nicht mehr viel zu entdecken. Dann sahen wir am Wegesrand die ersten Häuser von El Tanque, dem 1999 neu gegründeten und mit deutscher Hilfe aufgebauten Ort. Häuschen an Häuschen ist aufgereiht, aus erdbebensicherem Material zusammengefügt, inzwischen häufig versehen mit Anbauten. Jede Familie der Hinterbliebenen der "Mitch"- Opfer hatte ein solches Haus erhalten mit einem Stück Land dahinter zur Selbstversorgung und Gemeinschaftsland zum gemeinsamen Ackerbau. Verkaufen können die Angesiedelten ihr Land nur an diese Gemeinschaft. Aber nur ganz wenige wollten bisher weg.

Die Menschen zeigten sich uns gegenüber dankbar und zufrieden. Im Gemeindehaus gibt es eine Ausstellung über die "Mitch"- Katastrophe und die Entstehung des Ortes. Der damalige medico international-Mitarbeiter Walter Schütz, der inzwischen im Ruhestand ist, ist hier bekannt und wird noch immer sehr geschätzt. Er erläuterte die damalige Hilfe durch die deutsche Bundestagsdelegation.

Alle Grundstücke werden genutzt zur Selbstversorgung. Die Gärten vor den Häusern sind voller Blütenpracht, hinter den Häusern werden Kleinvieh, Hühner, Schweine, Ziegen und Pferde gehalten; es werden Mais, Tomaten und sogar Weintrauben angebaut. Etwa eintausend Menschen leben jetzt hier. Der alte und der gerade neu gewählte Bürgermeister äußerten sich zufrieden. Wir wurden zu einer kräftigen Gemüsesuppe, selbstgebackenen Tortillas und Cola eingeladen. In gemeinsamer Anstrengung ist ein bisher sehr erfolgreiches Projekt der Entwicklungszusammenarbeit entstanden.

"Jatropha-Diesel"-Projekt

Auf der Rückfahrt stießen wir in Leon auf eine Gruppe von DED-Leuten, die ein Bio-Diesel-Projekt in der Nähe besuchen wollten, das der DED unterstützt. Ich fuhr mit.

Wir besuchten einen Betrieb, den ein Großproduzent von Erdnüssen für den Export zur Diesel-Erzeugung gemeinsam mit Bauernkooperativen betreibt. Er hatte festgestellt, dass das Dieselöl für seine Traktoren jährlich 400 000 Dollar jährlich kostet. Andererseits gehören ihm auch Ländereien mit weniger fruchtbaren Böden. Auf diesen pflanzt er nun die Jatropha-Pflanze an, eine Art Nuss, ähnlich der Kaffeebohne. Wir besichtigten das Feld mit den halbhohen Bäumchen, die schon beginnen, Früchte zu tragen. Diese sollen von den Bäuerinnen gepflückt werden, die damit helfen, ihre Familien zu ernähren. Für die Verarbeitung steht eine Ölpressmaschine zu Verfügung, die uns vorgeführt wurde. Das Projekt steckt noch in der Entwicklung.

16. April: Parlamentsgespräche über Menschenrechte und Landespolitik

Frühmorgens traf ich bei einem Arbeitsfrühstück, das die Botschafterin Frau Dr. Kern im Hotel gab, die Aktivistin Dr. Vilma Nunez vom Menschenrechtszentrum (CENIDH), die mich über die Situation der Menschenrechte in Nicaragua informierte.

Folter oder politische Gefangene gebe es nicht, aber einzelne Fälle von Misshandlungen. Die Demonstrationsfreiheit werde häufig eingeschränkt durch Gegendemonstranten, die auch Gewalt anwenden. So sei es in Leon bei Protesten gegen Wahlfälschungen gewesen. Die Polizei helfe häufig nicht. Allerdings sei die Polizeipräsidentin standhaft neutral, nur setze sie sich immer weniger durch. Pressefreiheit gebe es immer weniger, weil Druck auf JournalistInnen ausgeübt werde. Das führe zu Selbstzensur.

Immer weniger mutige JournalistInnen entzögen sich dem. Sie schildert weitere Beispiele von Menschenrechtsverletzungen:

Menschenrechtsverteidigern werden Besuche in Gefängnissen untersagt. Wenn sie Kritik äußern, berichteten die Medien nicht. Sie wurden anonym am Telefon bedroht. Es gebe eine feindselige Haltung gegen die Frauenbewegung. Das bekomme auch sie selbst zu spüren: An ihrem Haus gebe es Schmierereien. Schutzzusagen würden nicht eingehalten. Jegliche Abtreibung werde mit hohen Gefängnisstrafen belegt.

Treffen mit drei Abgeordneten aus der Regierungspartei und der Opposition im Parlament:

Edwin Castro Rivera, Fraktionschef der FSLN (Sandinisten)

Er beantwortete bereitwillig alle Fragen, auch kritische, und betonte aber, dass es keine politischen Gefangenen gebe. Die Sicherheit vor Kriminalität sei viel besser garantiert als in den meisten Nachbarländern. Für Auseinandersetzungen bei Demonstrationen sei die Regierung nicht verantwortlich. Die Polizei bemühe sich, solche zu verhindern. Die Polizeipräsidentin garantiere dies. Es stimme nicht, dass Sandinisten gewalttätige Gruppen auf der Straße organisierten.

Es gebe keine Einschränkungen der Pressefreiheit. Die Medien und insbesondere die Presse seien ganz überwiegend in der Hand von Regierungsgegnern und veröffentlichten fast nur Kritisches. Das könne man täglich nachlesen. Die harten Strafen für Abtreibung verteidigte er nicht offensiv, sondern begnügte sich mit der Feststellung, diese seien nicht in einem einzigen Fall angewandt worden. Kein Arzt sei bisher verurteilt worden. Das enge Bündnis mit dem Kardinal und der katholischen Kirche entspreche der Politik der Versöhnung mit allen. Das enge Bündnis mit Venezuela und Präsident Chávez bringe dem Land große Vorteile. Die Zuwendungen kämen der Bevölkerung zu Gute. Diese würden über die Firma ALBANISA für Wohnungsbau- und für andere Sozialprogramme zur Verfügung gestellt. Gegen die Vorwürfe wandte er ein, schließlich investierten auch andere große Firmen viel Geld im Land. Diese übten seit Jahren großen Einfluss aus und ließen sich nicht in die Karten bzw. Geschäftspapiere schauen. Darüber rege sich niemand auf, wenn das Kapital dafür aus den USA komme. Es sei nicht richtig, solche Vorwürfe jetzt gegen die Firma ALBANISA zu erheben.

Die Sandinisten hätten ihre Versprechungen eingehalten. Sie hätten ein Armutsbekämpfungsprogramm und ein Programm zur Alphabetisierung der Erwachsenen durchgeführt. Beide seien sehr erfolgreich gewesen, so sei die Alphabetisierung der Bevölkerung inzwischen bei weit über 90 Prozent angelangt.

Anschließend traf ich zu getrennten Gesprächen mit folgenden Abgeordneten zusammen:

Victor Hugo Tinoco, sandinistische Opposition, Fraktionschef MRS und Eduardo Montealegro, liberale Opposition, Fraktionschef BDN

Sie kritisierten die Regierung und Präsident Ortega heftig. Sie warfen ihnen vor, dass sie die Verfassung brechen, den obersten Gerichtshof mit "ihren Leuten" besetzten und für Betrugsfälle bei den Kommunalwahlen verantwortlich seien. Sandinistische Gruppen gingen gewaltsam gegen Oppositionelle vor und störten deren Veranstaltungen. Ergebnis des Paktes mit der katholischen Kirche seien die Abtreibungsgesetze mit drakonischen Strafen. Das angekündigte Armutsbekämpfungsprogramm sei weitgehend gescheitert. Völlig unübersichtlich sei, wohin die vielen Millionen flössen, die vom Präsidenten von Venezuela, Chávez, kommen und mit welchen Verpflichtungen dieser Finanzfluss verbunden sei. Besonders erwähnten sie die undurchsichtigen Geschäfte der Firma ALBANISA. Es bestehe der Verdacht, dass die Familie Ortega über die Firma ALBANISA Reichtümer anhäufe und Hotels und Kaufhäuser aufkaufe.

Beide betonten, aus diesen Gründen müsse die Opposition sich zusammentun und auf einen Kandidaten für die Präsidentschaft einigen. Das sei schwierig, aber unverzichtbar. Bemerkenswert war, dass Tinoco zur Not auch den früheren Präsident Aleman als Kandidaten in Kauf nähme, wenn es gar nicht anders gehe, trotz dessen Verurteilung wegen Korruption etc.

Als letzte Gesprächspartnerin traf ich zum Mittagessen

Frau Dora Maria Telles, MRS-Präsidentin.

Sie ist die berühmteste Commandante der Sandinisten aus der Zeit der Revolution und war damals bei der Erstürmung des Parlaments dabei. Später war sie einige Zeit Gesundheitsministerin in der ersten sandinistischen Regierung im Kabinett Daniel Ortegas.

Auch ihre Kritik am Präsidenten und der Regierung war scharf. Besonders stellte sie den Erfolg der Alphabetisierungskampagne für Erwachsene und des Programms zur Armutsbekämpfung in Frage. Die Zahl der Ärmsten sei heute größer als vorher. Sie könne sich vorstellen, daß Tinoco ein guter gemeinsamer Kandidat der Opposition sei. Einen gemeinsamen Kandidaten Aleman lehnte sie allerdings vehement ab. Das sei mit ihr nicht zu machen. Sie zeigte sich nicht nur zuversichtlich über die Erfolgschancen ihrer Bewegung, sondern geradezu begeistert. Während die Beliebtheit der Sandinisten Ortegas nach den absoluten Zahlen der Wahlstimmen seit Jahren stagniere, nähmen die Stimmen für ihre Bewegung rasant zu. Sie hatte die konkreten Zahlen parat. Einwände von Kritikern, Ihre Bewegung sei zwar in den Städten bekannt und verankert, aber nicht in den ländlichen Regionen und verfüge außerdem über so gut wie keinen Unterbau, wollte sie nicht gelten lassen. Nein, man werde schon sehen, wie erfolgreich sie seien. Sie müssten nur den richtigen Kandidaten haben.

16. April: 15.41 Uhr: Abflug aus Managua - Ankunft in Berlin am 19.4. 2010 um 21.00 Uhr mit Verzögerung wegen der Vulkanasche über Europa

Fazit

Mein Gesamteindruck von Nicaragua lässt sich so zusammenfassen:

Das Land hat sich im letzten Jahrzehnt erheblich entwickelt, und zwar besser als einige der Nachbarstaaten im Norden. Dem äußeren Eindruck aus wenigen Tagen nach sind die Häuser und Straßen in weit besserem Zustand als früher. Das Angebot in Restaurants, an Waren und Verkehrsmitteln ist besser. Die Armut hat sich verringert, ist jedenfalls weniger sichtbar, auch in den ländlichen Bereichen, in denen ich war. Von allen GesprächspartnerInnen wird die erheblich bessere Sicherheitslage als in anderen Ländern Mittelamerikas bestätigt - ein gar nicht hoch genug einzuschätzender Vorteil. Von fast allen wird über die gleichen Gründe der Kritik am Präsidenten, an seiner Regierung und seiner Familie berichtet. Der Pakt mit Chávez wird zumeist sehr kritisch gesehen. Verschleierung und Undurchsichtigkeit der Regierungspolitik werden immer wieder genannt. Keiner weiß so richtig, was vereinbart ist, was mit dem vielen Geld aus Venezuela passiert und ob mit dem Geldsegen schwer zu erfüllende Bedingungen verbunden sind. Die Geheimhaltung schürt sehr viel Misstrauen.

Ihr/Euer Hans-Christian Ströbele

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