Wahlkampf 2013

Dringliche Frage: Gezielte Tötungen in Afghanistan

16.12.2009: Information und Beteiligung von Bundeskanzleramt und Bundeskanzlerin an Vorgaben für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan mit dem Ziel der gezielten Tötung von Aufständischen

Frage:

Inwieweit waren das Bundeskanzleramt und die Bundeskanzlerin informiert und beteiligt an der Erörterung und Billigung von Einsatzvorgaben für Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, Aufständische - insbesondere mutmaßliche Taliban-Aktivisten oder von al Qaida - gezielt zu töten, und wie ist die Beteiligung von Soldaten der Bundeswehr an Bombardierungen zur Vernichtung von Menschen am 4. September 2009 mit der schriftlichen Antwort der Bundesregierung vom 14. Januar 2008 auf meine Frage 31 auf Bundestagsdrucksache 16/7794 zu vereinbaren, wonach Bundeswehrangehörige solche Tötungen "nicht durchführen" und derlei den durch die Bundesrepublik Deutschland zu beachtenden völkerrechtlichen Verpflichtungen fremd sei?

Antwort:

Ihre Frage zielt im Ergebnis auf die Grenzen der zulässigen militärischen Gewalt im Rahmen des ISAF-Einsatzes ab. Wie weit diese Befugnisse gehen, richtet sich zuforderst nach den Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zum ISAF-Einsatz in Afghanistan. Sie ermächtigen die an der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe teilnehmenden Mitgliedstaaten und damit die von ihnen entsandten Soldatinnen und Soldaten, alle zur Erfüllung des Mandates notwendigen Maßnahmen zu ergreifen (to take all necessary measures to fulfil ist mandate). In deutsches Recht transferiert wird diese Ermächtigung uneingeschränkt über Art. 24 Abs. 2 GG durch Beschluss des Deutschen Bundestages auf Antrag der Bundesregierung. Die Beschlüsse des Deutschen Bundestages zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der NATO-geführten Internationalen Sicherheitsunterstützungsgruppe in Afghanistan beziehen sich darauf, dass die Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe autorisiert ist, "alle erforderlichen Maßnahmen einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt" zu ergreifen, um das Mandat der Vereinten Nationen durchzusetzen. Den im Rahmen von ISAF eingesetzten deutschen Soldatinnen und Soldaten werden damit Befugnisse erteilt, die über bloße Notwehr- und Nothilferechte hinausgehen. Entsprechend hat der Kollege Staatssekretär Kossendey bereits in einem Schreiben vom 5. März 2008 an die damalige Vorsitzende des Verteidigungsausschusses in Bezug auf die Schranken der Anwendung militärischer Gewalt zusammengefasst mitgeteilt, dass sich militärische Lagen ergeben können, in denen sowohl bei der Auftragsdurchführung als auch im Rahmen der Selbstverteidigung der Einsatz tödlich wirkender Waffen unumgänglich sein kann. Ziel der überarbeiteten Taschenkarte vom Juli 2009 war es auch, diesen Punkt deutlicher und für die anwendenden Soldatinnen und Soldaten verständlicher herauszuarbeiten. In einem Schreiben vom 24. Juli 2009 hat das Bundesministerium der Verteidigung die Obleute des damaligen Verteidigungsausschusses über die neue Taschenkarte unterrichtet und dementsprechend ausgeführt: Die Überarbeitung der Taschenkarte bedeutet keine Erweiterung der Befugnisse der unter ISAF eingesetzten deutschen Soldatinnen und Soldaten. Hierfür bestand auch keine Notwendigkeit, da die nationale Weisungslage bereits bisher dazu berechtigte, das militärische Handlungsspektrum nach Maßgabe des völkerrechtlichen Mandats und des Mandas des Deutschen Bundestages, des Operationsplans sowie der Rules of Engagement voll auszuschöpfen. Von einem grundlegenden Strategiewechsel kann daher keine Rede sein. Dass die Handlungsbefugnisse der Bundeswehr nicht auf polizeiliche Maßnahmen beschränkt und an polizeilichen Maßstäben zu messen ist, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Beschlusses des Deutschen Bundestages, in dem es heißt: "einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt". Welche Maßnahmen im Sinne der Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und im Sinne der Beschlüsse des Deutschen Bundestages zur Durchsetzung des Mandates erforderlich (all necessary measures) sind, ist in erster Linie durch den militärischen Führer vor Ort aufgrund seiner konkreten Bewertung der aktuell gegebenen Situation zu beurteilen. Je instabiler sich die Situation vor Ort entwickelt, je mehr gegnerische Kräfte zu militärischen Formen von Kampfführung übergehen, desto weiter wird das Spektrum erforderlicher Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit im Einsatzgebiet sein. Eindeutig ist, dass militärische Befugnisse, zu denen ein Beschluss des VN-Sicherheitsrates ermächtigt, niemals über die Vorgaben des humanitären Völkerrechts hinausgehen dürfen. Die Bundeswehr befindet sich jedenfalls im Raum Kunduz seit geraumer Zeit in einer Lage, in der sie regelmäßig von organisierten und militärisch bewaffneten gegnerischen Kräften angegriffen und in Kampfhandlungen sowie länger andauernde Gefechte verwickelt wird. Dies erfordert es, dass die deutschen Soldaten ihrerseits nach militärischen Grundsätzen agieren, um ihren Auftrag durchsetzen zu können. Damit ist aber auch der Tatbestand des nicht internationalen bewaffneten Konflikts gegeben. Rechtsfolge ist die unmittelbare Geltung des humanitären Völkerrechts, namentlich des II. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen. Danach dürfen in der Situation eines nicht internationalen bewaffneten Konflikts gegnerische Kräfte auch gezielt mit militärischen Mitteln bekämpft werden, sofern und solange sie unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen. Selbstverständlich sind bei jedem militärischen Vorgehen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit des humanitären Völkerrechts zu beachten. Darüber hinaus haben Sie gefragt, inwieweit das Bundeskanzleramt und die Bundeskanzlerin an der Erörterung und Billigung von Einsatzvorgaben informiert und beteiligt waren. Das Bundeskanzleramt war wie auch das Auswärtige Amt bei der Aufstellung der entsprechenden rechtlichen und operativen Rahmenbedingungen im Vorfeld der jeweiligen Mandatserstellungen umfassend eingebunden und insofern beteiligt.