Wahlkampf 2013

Rede von Hans-Christian Ströbele zur Krise in Venezuela

01.07.2004: Rede zum Antrag der Abgeordneten Lothar Mark, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Hans Büttner (Ingolstadt), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Thilo Hoppe, Dr. Ludger Volmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: "Für eine schnelle Überwindung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise in Venezuela" (Drucksache 15/3453)

Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen): Eine wichtige Forderung zur Entwicklung in Venezuela, über die wir hier im Bundestag mehrfach diskutiert haben, ist erfüllt: Es gibt ein Referendum und einen festen Termin für die Durchführung des Referendums zur Abwahl des Präsidenten Chavez und neun Abgeordneter, am 15. August. Das ist erfreulich und gut, das trägt zur Entspannung des Konflikts bei. Präsident Chavez will sich dem Votum fügen - allen Unkenrufen und Schmähungen zum Trotz. Das verdient Respekt.

Die Opposition unterstellt dem Präsidenten, er werde technische Probleme bei der Durchführung des Referendums nutzen, um so den Termin des Referendums über den Stichtag 19. August hinauszuzögern. Dann müssten keine Neuwahlen stattfinden. Nach der Verfassung könnte dann sein Stellvertreter die Geschäfte bis zum nächsten regulären Wahltermin fortsetzen. Die Regierungstreuen unterstellen, die Opposition wolle ein klares Wahlergebnis verhindern, weil sie keine konstruktive und personalisierte Alternative sei, und die Institutionen Venezuelas in den Augen der Weltöffentlichkeit diskreditieren, um eine Intervention von außen möglich zu machen.

Es ist nicht einfach vom fernen Europa her zutreffend zu beurteilen, was Desinformation und Propaganda ist, die offenbar von beiden Seiten, von Opposition und Regierung, betrieben werden und was die politische Realität und Wahrheit ist.

Ich selber hatte bisher nicht die Gelegenheit, Venezuela zu besuchen, um eigene Eindrücke von der Situation zu bekommen. Ich bemühe mich aber, alle Informationsmöglichkeiten zu nutzen, um eine umfassendes und differenziertes Bild jenseits der Propaganda aller Seiten von der Situation in Venezuela zu erhalten.

Danach halte ich fest: Erstens. Chavez wurde zum Präsidenten in freier Wahl gewählt, weil große Teile der heutigen Opposition in Korruption und Vetternwirtschaft verwickelt waren. Die abgelöste Regierung hatte eines der wohlhabendsten Länder Lateinamerikas in Misswirtschaft und große Teile der Bevölkerung in Armut geführt. Gerade unter Armen im Land ist daher die Unterstützung des Präsidenten groß, wie Umfragen und große Demonstrationen mit vielen Hunderttausenden Teilnehmern zu entnehmen ist.

Zweitens. Eine Opposition die - im Jahr 2002 nach einem Putsch an die Macht gekommen - zunächst alle parlamentarischen Institutionen einschließlich des Parlaments auflöst, gebührt wenig parlamentarische Glaubwürdigkeit und zwar unabhängig davon, wie es zu dem Putsch gekommen ist und wer in dessen Verlauf welche Rolle im Einzelnen gespielt hat.

Drittens. Die Verfassung, die Präsident Chavez hat erarbeiten und dem Volk von Venezuela zur Abstimmung vorlegen lassen, gehört zu den fortschrittlichsten und demokratischsten in Lateinamerika. Sie erkennt nicht nur endlich auch die Rechte indigener Völker an, sondern führt auch die Möglichkeit eines Referendums zur Abwahl des Präsidenten erstmals ein. Die Verfassung wurde mit großer Mehrheit in einer Volksabstimmung angenommen. Die frühere Opposition hatte immer wieder eine Verfassungsgebung ankündigt, dies aber nie wahr gemacht.

Viertens. Die jüngsten Beschwerden über die geplanten Einschränkungen von Rechten der Abgeordneten der Opposition habe ich überprüft, soweit es mir anhand der Texte der Änderungen der Geschäftsordnung, die beschafft werden konnten, möglich war. Die Möglichkeit, das Parlament auf Beschluss des Präsidiums außerhalb seines Sitzes im Parlamentsgebäude, etwa in einem Barrio, tagen zu lassen, ist tatsächlich sehr problematisch. Die meisten anderen Änderungen bewegen sich aber durchaus in dem Rahmen, der in anderen Parlamenten Standard ist, so etwa das Recht jedes Abgeordneten im Parlament zu reden, sowohl was die Länge der Reden als auch deren Häufigkeit anbetrifft, oder Abstimmungen überprüfen zu lassen.

Fünftens. Vorwürfe der Gleichschaltung und Unterdrückung der Medien sind zumindest in ihrer Pauschalität schwer nachvollziehbar. Das staatliche Fernsehen wird vom Präsidenten offensichtlich extensiv zur Propaganda für seine Politik genutzt. Dies gilt gerade auch für seine in jeder Woche stundenlang zelebrierten Reden und Talkshows.

Aber im Übrigen sind die Medien ganz überwiegend in der Hand der Chavez-Kritiker. Dies gilt für die Presse, aber auch für das halbe Dutzend an Privatsendern. Auch solche, die früher seine Politik unterstützt haben, sind heute auf einem harten Anti-Chavez-Kurs. Die Kritik am Präsidenten wird drastisch fast überall publiziert und nicht selten in einer Härte und Konsequenz, wie sie etwa nach deutschem Presserecht nicht zulässig wäre. So lief jüngst in einem der venezolanischen TV-Kanäle über eine Woche lang ein Spot, in dem zuerst Saddam Hussein gezeigt wurde sowie der Aufmarsch der US-Amerikaner im Irakkrieg, anschließend verwandelte sich das Gesicht von Saddam Hussein in das von Hugo Chavez und quer über das Bild erschien der Spruch "Chavez, wir holen Dich!" Ein solcher Spot würde in der Bundesrepublik wohl sofort an rechtliche Grenzen stoßen. Eine solche Kritik an einem Diktator wäre in einer Diktatur nicht vorstellbar. Der mit diesem Spot ausgedrückte Wunsch nach einer Intervention von außen würde als Hochverrat mit härtesten strafrechtlichen Sanktionen verfolgt. Dieser Wunsch trifft wohl auch in Venezuela und anderen Ländern auf große Ablehnung der Menschen.

In meiner Einschätzung fühle ich mich bestätigt durch die Stellungnahme der Vereinigung amerikanischer Juristen, AAJ. Diese weist in einer Stellungnahme darauf hin, dass es in Venezuela einen Rechtsstaat gibt, der das Funktionieren der verfassungsmäßigen Freiheiten garantiert. Sie betonen, dass dies nicht nur dadurch belegt wird, dass die Opposition ein Referendum gegen den Präsidenten durchführen kann, obwohl sie vor nicht allzu langer Zeit einen Putsch unternommen hat, der scheiterte, und erst vor kurzem einen Generalstreik initiiert hat, der erheblichen wirtschaftlichen Schaden für das Land zur Folge hatte.

Aber ich will deutlich sagen, um Missverständnisse nicht aufkommen zu lassen: Diese Feststellungen sollen eine Reaktion und eine Antwort sein auf die zum Teil maßlos übertriebenen Darstellungen der Missstände in Venezuela und auf undifferenzierte Kritik, die aus den Reihen der hiesigen Opposition in der Vergangenheit vorgetragen wurde. Übrigens ergab auch ein Gespräch mit Abgeordneten der venezolanischen Opposition ein weitaus differenzierteres Bild. Keinesfalls will ich Präsident Chavez generell verteidigen und all sein Tun rechtfertigen; dies ist nicht meine Intention. Vielmehr habe ich selbstverständlich auch die Vorwürfe, die gegen die Regierung Chavez, seine Polizei, seine Armee und vor allem seine bewaffneten Hilfstruppen erhoben werden, zur Kenntnis genommen. Ich nehme sie ernst. Allen Vorwürfen der Begehung von Menschenrechtsverletzungen muss rückhaltlos nachgegangen werden. Folter an Gegnern von Chavez oder gar die Tötung von Demonstranten, Journalisten und Politikern müssen ohne Ansehen der Person strafrechtlich verfolgt werden.

Aber jetzt geht es erst mal darum: Das Referendum muss ordnungsgemäß durchgeführt werden. Seine Ergebnisse müssen verfassungskonform umgesetzt werden. Die Regierung und die Opposition in Venezuela kann ich nur weiterhin auffordern, die Lage durch Repression und Desinformation nicht weiter zu verschärfen. Wenn der Antrag zu einer differenzierten Beurteilung und Beruhigung der Lage beitragen kann, hat er seinen Zweck erfüllt.