Wahlkampf 2013

"Raus aus dem Dilemma in Afghanistan!"

31.08.2007: Ein Positionspapier im Vorfeld des Sonderparteitages der Grünen zum Krieg gegen Afghanistan. Damit will Hans-Christian Ströbele einen Beitrag für die öffentliche sowie parteiinterne Debatte leisten.

Der Krieg im Süden Afghanistans ist nicht mehr in den Schlagzeilen. Gleichwohl beschäftigt er die Menschen in Deutschland. In Umfragen haben sich zuletzt 64 Prozent der Bevölkerung für einen raschen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan ausgesprochen. Diese große Mehrheit in der Bevölkerung steht damit gegen die großen Mehrheiten im Bundestag und der veröffentlichten Meinung. Bei den nächsten Wahlen werden die Friedenspolitik, der Krieg in Afghanistan, die Haltung der Parteien und Meinung der Bevölkerung dazu eine erhebliche Rolle spielen. Zu Recht befassen sich Die Grünen so intensiv wie keine andere Partei mit diesem Thema. Sie tragen die notwendige Diskussion und Kontroverse wieder einmal stellvertretend für die Gesellschaft öffentlich aus. Auch auf dem Sonderparteitag.

Verschärfte Sicherheitslage, zivile Opfer - Folge des offensiven Krieges

Nur noch in Kurzmeldungen auf den hinteren Seiten der Presse finden sich Meldungen über Kämpfeinsätze von OEF und ISAF Süden Afghanistans und dabei getötete Zivilisten. Danach sollen bis Anfang Juli in diesem Jahr nach Angaben von Acbar (Dachverband der Hilfsorganisationen) 230 Zivilisten ihr Leben verloren haben. Am 1. Juli soll es bei Bombardierungen des Dorfes Hyderabad in der Provinz Helmand aus der Luft 45 zivile Opfer gegeben haben, eine Woche vorher im selben Bezirk Gereshk noch mehr, am 27. 7. waren es nach Angaben des Parlamentsabgeordneten Dschan Sabri mindestens 50 Zivilisten, am 25. 8. in derselben Provinz im Bezirk Musa Kela nach Angaben von Dorfbewohnern 18 Zivilisten und so geht es weiter Woche für Woche, Monat für Monat Zutreffend wurde die Tötung von deutschen Soldaten während eines Marktbesuches durch ein Bombenattentat als hinterhältiger, feiger Mord verurteilt. Aber wie soll man die Tötung von Zivilisten bezeichnen, die durch Bomben aus US-Flugzeugen und Raketen aus heiterem Himmel auf Ortschaften und Gehöfte einen qualvollen Tod sterben.

Die Luftangriffe im Süden Afghanistans mit den häufig verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung finden keineswegs nur im Rahmen von Kriegseinsätzen von OEF statt, sondern mehr und mehr auch von Einsätzen der ISAF-Einheiten. So waren die Militäraktionen im Juni, bei denen nach Angaben des Präsidenten Karsai 90 Zivilisten getötet wurden, ISAF-Einsätze. Im Süden ist die Vermischung beider Militärmissionen Alltag. Der ISAF-Kommandeur ist gleichzeitig stellvertretender OEF-Chef.

Deshalb hilft die Unterscheidung zwischen OEF-Mandat, das zur Belastung für das notwendige Vertrauen in der Bevölkerung und den Wiederaufbau geworden ist, und dem ISAF-Mandat, wie es sich inzwischen entgegen Sinn und Wortlaut des UN-Beschlusses und dem des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2001 entwickelt hat, nicht mehr weiter. Im Süden Afghanistans gelten die Argumente gegen den offensiven Krieg von OEF genauso auch für die dort eingesetzten ISAF-Einheiten. Jeder Militärschlag mit zivilen Opfern schürt den Haß gegen ausländischen Truppen, die als Besatzer gesehen werden, und treibt den Taliban neue Kämpfer zu. Der Wiederaufbau im Süden wird dadurch behindert und die Sicherheitssituation im ganzen Land dramatisch verschlechtert.

Auch aus diesem Grund bleibt es so wichtig, dass die Bundeswehr im Süden nicht eingesetzt wird. Der Einsatz der Tornados der Bundeswehr ist weiterhin der Sündenfall. Aus den Flugzeugen werden zeitnah auch im Süden Daten und Fotos an den Kommandeur geliefert, der gleichzeitig OEF und ISAF befehligt. Sie sind damit Grundlage aller Entscheidungen.

Wiederaufbau und Entwicklung - immer eingeschränkter möglich

Ziviler Aufbau und Entwicklungsprojekte sind sicher richtig und wichtig. Die Tätigkeit der internationalen Hilfsorganisationen ist dafür unverzichtbar. Aber sie ist heute bereits stark eingeschränkt und in Zukunft immer weniger möglich, auch im Norden Afghanistans. Humanitäre Organisationen wie die Caritas prüfen, ob sie ihre Arbeit einstellen müssen. Malteser International zieht bis Oktober seine deutschen Mitarbeiter ab und schließt sein Büro in Kabul. Mitarbeiter deutscher Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit werden wegen fehlender Sicherheit zeitweise gebeten, befestigte Sicherheitsbereiche nicht zu verlassen oder Urlaub zu nehmen. Für akute Unsicherheitslagen gelten kurzfristige Ausgangsverbote und generelle Fahrverbote für Überlandfahrten. Zwischen den Städten sollen sie das Flugzeug nutzen. Immer mehr bewegen sich nur noch in sondergeschützten Fahrzeugen im Land. Die enge Zusammenarbeit und Unterstützung der Bevölkerung durch ausländische Hilfsorganisationen bei den Aufbau- und Entwicklungs¬bemühungen ist sicher schützenswert, aber wird immer weniger gelingen können gerade auch wegen der Eskalation des Krieges und der kriegerischen Gewalttaten.

Jahrzehnte Militärpräsenz, mehr Soldaten - keine Lösung

Zunächst waren es nur die Militärs, die ankündigten, der Einsatz der Bundeswehr werde wohl etwas länger dauern. Sie sprachen von zwei oder gar drei Jahren, als die Angriffe der Taliban wieder zunahmen.

Inzwischen sind es nicht nur die Militärs, die sich übertreffen mit Prognosen für die Dauer des Militäreinsatzes in Afghanistan. Der CDU- Verteidigungsexperte Siebert spricht von einem "Zehnjahreszeitraum", der nicht zu kurz gegriffen sei, und aus der grünen Bundestagsfraktion verlautet, " Afghanistan zu stabilisieren wird nicht zwei oder drei Jahre dauern, sondern wir müssen uns auf 10 oder 20 Jahre Präsens einstellen".

Beschlossen wurden die Bundeswehreinsätze vor sechs Jahren auf der Grundlage, dass sie sechs Monate, vielleicht ein Jahr dauern. Der damalige Kanzler Schröder hatte im Dezember 2001 zur Frage nach zeitlicher Begrenzung des Mandats darauf hingewiesen, auch das geschehe. Man könne streiten, ob sechs Monate eine zureichende Begrenzung sei. Es handele sich aber um ein von den Aufgaben her, vom Einsatzort ( ISAF nur in Kabul ) her und von der Zeit her begrenztes Mandat. Ob damals eine Mehrheit im Bundestag zustande gekommen wäre für einen Bundeswehreinsatz von vielleicht 15 bis 20 Jahre Dauer mit der einer jährlichen Steigerung der Zahl der eingesetzten Soldaten bleibt offen.

Inzwischen ist von einer zeitlichen Begrenzung keine Rede mehr. Das Einsatzgebiet von ISAF wurde immer weiter ausgedehnt. Es umfasst inzwischen das ganze große Land Afghanistan. Das Aufgabenspektrum ist faktisch unbegrenzt erweitert worden. Dazu gehören jetzt auch ganz normale Kriegseinsätze wie die der OEF-Einheiten im Süden. Und die Zahl der Soldaten nimmt zu. Die SPD-Spitze will die Gesamtzahl jetzt weiter aufstocken. Auch aus der CDU gibt es Stimmen, es müssten mehr deutsche Soldaten nach Afghanistan. Ungeklärt scheint nur noch, wie viele deutsche Soldaten mehr es denn sein sollen, wo in Afghanistan, ob auch im Süden und für welche Aufgaben sie eingesetzt werden.

Die ausländischen Truppen einschließlich der deutschen sollen erst abgezogen werden, wenn Afghanistan stabilisiert ist, was auch immer das konkret heißen mag. Was aber rechtfertigt die Hoffnung derer, die sich so heftig für die Verlängerung und Verstärkung des Bundeswehreinsatzes stark machen, dass die Lage in Afghanistan in 2, 3, 10 oder 20 Jahren besser, stabiler und vor allem sicherer wird ? Es gibt doch leider gar nicht die Fortschritte, die eine solche positive Prognose rechtfertigen. Die Entwicklung der Sicherheitslage spricht eher dagegen. Nachdem die Taliban noch Ende 2004 von den ISAF-Kommandeuren als "faktisch besiegt" erklärt wurden, hat sich die Lage in den letzten Jahren drastisch verschärft. Und jeden Monat nehmen die militärischen Aktivitäten von Taliban und anderen Rebellengruppen zu. Nicht nur in der für sicher erklärten Hauptstadt Kabul, sondern auch im Norden. Immer neue Kämpfer kommen nicht etwa nur aus über die Grenze aus Pakistan zur Verstärkung. Die offensive Kriegführung im Süden fördert die Rekrutierung immer neuer Kämpfer auch aus dem ganzen Land. Selbstmordanschläge und Entführungen sind dazu gekommen. Die Zahl der Opfer steigt ständig. Eine Irakisierung des Krieges droht.

Anlaß zur Hoffnung auf Besserung besteht kaum. Wahrscheinlicher scheint derzeit das Gegenteil. Der Krieg wird eskalieren, die Anzahl der Truppe weiter aufgestockt. Und die Gefahr wächst, dass der Krieg Deutschland erreicht. Was aber ist, wenn in fünf, zehn oder zwanzig Jahren die Sicherheitslage schlecht geblieben oder noch schlechter geworden ist. Die kriegführenden Staaten werden immer mehr Truppen ins Land geschickt haben, bis 60, 80 oder gar hunderttausend Soldaten sind. Die Erfolgschancen werden trotzdem nicht sicher. Die Sowjetarmee war mit mehr als hunderttausend Soldaten im Land, bevor sie aufgegeben hat. Die Alternative heißt also nicht, noch einige Jahre die Bundeswehreinsätze durchhalten, dann ist die Lage stabilisiert und die Bundeswehr hinterlässt ein Land nach erfolgreichem nation building. Wahrscheinlicher ist, dass die Fortsetzung des Krieges so wie bisher auch über Jahre nicht den gewünschten Erfolg bringt. Bis dahin werden weitere tausende oder zehntausende Menschen getötet, schwer verletzt und ihrer Existenzgrundlage beraubt sein. Wenn die ausländischen Soldaten dann abziehen, hinterlassen sie womöglich ein noch mehr zerstörtes Land im Chaos.

Angesichts dieser Perspektiven ist eine Fortsetzung des Krieges so wie bisher nach sechs Jahren vergeblicher Versuche, die Lage zu stabilisieren, nicht zu verantworten. Eine Ausweitung durch immer mehr Truppen wäre verhängnisvoll.

Militärischem Strategiewechsel - sonst Konsequenzen

Eine Wechsel der militärischen Strategie ist dringend geboten. Diese Forderung ist weder neu noch originell. Die Grünen fordern das seit Jahren immer wieder. Das hatte schon der letzte Parteitag in Köln beschlossen. Die Forderung blieb folgenlos, obwohl ein Strategiewechsel in Afghanistan auch von anderen Parteien und Parteivertretern immer wieder verlangt worden ist. Den militärischen Strategiewechsel hat die grüne Bundestagsfraktion auch in Anträgen anlässlich des Beschlusses über den Einsatz der Tornado-Flugzeuge der Bundeswehr in Afghanistan und danach erneut im Juni dieses Jahres gefordert. Diese Anträge wurden und werden im Bundestag abgelehnt. Sie bleiben angesichts der Verhältnisse im Bundestag folgenlos. Gleichwohl wurde mit Hinweis auf diese und andere richtige Forderungen immer wieder dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zugestimmt. Auch die Unterstützung des Mandats für die Tornado-Flugzeuge wurde damit begründet, dass dies ja nur zusammen mit der Forderung nach einem Strategiewechsel geschehe.

Damit sich die Forderung nach einem Strategiewechsel nicht zu einer Art Daueralibi für die Zustimmung zu Bundeswehreinsätzen entwickelt, muss ihre Nichterfüllung sanktioniert werden.

Abzug der Bundeswehr vorbereiten - durch Realisierung von Strategiewechsel und Verhandlungen

Der Krieg im Süden Afghanistans weitet sich aus und wird härter. Die Sicherheitslage wird dramatisch schlechter. Für die Stabilisierung der Lage in Afghanistan fehlt bei einem "Weiter so" die Perspektive.

1. Diese Fortsetzung des Einsatzes der Bundeswehr ist nicht mehr verantwortbar. Spätestens innerhalb eines halben Jahres muss ein grundlegender Strategiewechsel und müssen Verhandlungen erkennbar sein. Ansonsten ist der Einsatz zu beenden.

2. In den nächsten Monaten ist der Strategiewechsel einzuleiten. Dazu gehört, dass der offensive Krieg im Süden beendet wird und Bombardierungen und Raketenangriffen eingestellt werden. Einsätze ausländischer Truppen sind auf die Sicherung der Bevölkerung und der Aufbauprojekte zu begrenzen.

3. Folgerichtig ist das Mandat für ISAF unverzüglich auf eine solche Aufgabenstellung zurückzuführen und sind die Mandate für OEF sowie für die Einsätze der Tornado-Flugzeuge der Bundeswehr zu beenden.

4. Gespräche über einen Waffenstillstand sind mit allen zu beginnen, die am Krieg beteiligt und zu Verhandlungen bereit sind. Es macht wenig Sinn, die von solchen Verhandlungen auszuschließen, die Gewalt anwenden und Krieg führen, denn sie sind es ja, die dem Waffenstillstand zustimmen und die Waffe niederlegen sollen. Ziel der Verhandlungen ist, zunächst für regionale und dann für überregionale Bereiche Afghanistans ein Ende der Kriegs- und der Gewalthandlungen möglichst bald zu erreichen.

5. Für Projekte der Bildung und Ausbildung, für Aufbau- und Unterstützungsmaßnamen sind Finanzmittel in derselben Höhe auch für die nächsten Jahre zur Verfügung zu stellen, wie derzeit für Hilfe und Militäreinsätze aufgewendet werden. Der Bevölkerung allen Regionen sind konkrete Hilfen in Aussicht zu stellen.

5. Die Opiumernte ist zunächst für die Zeit der Verhandlungen und des Waffestillstandes bei den Bauern aufzukaufen, um die enormen Gewinne aus Verarbeitung und Handel dem Einkauf von Waffen und der Kriegführung zu entziehen.

6. Mit den Regierungen aller Nachbarstaaten Afghanistans sind zeitgleich Gespräche über die Absicherung von Waffenstillstand und Friedensgesprächen zu beginnen.

7. Entsprechend dem Fortschritt der Verhandlungen sind auch die ISAF-Einheiten zu reduzieren, abzuziehen und, soweit notwendig und gewünscht, durch neutrale Sicherheitskräfte zu ersetzen.