Wahlkampf 2013

Gastbeitrag für die New York Times: Willkommen Edward Snowden!

18.11.2013: Hans-Christian Ströbele und Malte Spitz haben für die New York Times einen Gastbeitrag geschrieben. Darin fordern sie neben dem Asyl für Edward Snowden, die Verbesserung der Beziehungen zwischen der USA und Deutschland sowie den Schutz einer freien, unüberwachten Kommunikation und Privatheit.

  

Hier finden sie den gekürzten, englischen Beitrag auf www.nytimes.com

Eine böse Vision. Stellen wir uns vor: Millionen von Bürgern der Vereinigten Staaten werden ohne konkreten Verdacht ausgespäht vom deutschen Geheimdienst BND. Pro Monat werden Hunderte von Millionen Daten ihrer Kommunikation über Telefon, Fax,, SMS, E-Mail und Internet von den Deutschen abgefangen, ausgewertet und jahrelang gespeichert. Dies geschieht geheim an den zentralen Servern und Knotenpunkten der Glasfaserleitungen. Apple, General Electric und zahlreiche Banken rund um die Wall Street sind Opfer gezielter Industriespionage, die Gespräche von Top-Managern werden abgehört und Datenverkehre in Unternehmen abgefangen. Die großen Dienstleister der Internetkommunikation durchsuchen die Kommunikation der Bevölkerung nach Schlagworten, Mailadressen und besuchten Internetseiten und geben sie massenhaft an den BND weiter. Auch diplomatische US-Vertretungen - sogar die bei der UN - werden ausspioniert und belauscht. Schließlich wird bekannt, dass der deutsche Geheimdienst seit über zehn Jahren die Telefongespräche der US-Regierung sowie gar die privaten und amtlichen Gespräche des Präsidenten mitgehört und dessen SMS mitgelesen hat.

Die Empörung in den USA wäre groß. Niemand dort würde mehr von Freundschaft zu den Deutschen sprechen. Fürwahr eine solche Realität ist unvorstellbar.

Nicht möglich wäre auch, dass die deutsche Regierung auf solche Vorwürfe über Monate nur mit Dementis und dem Hinweis reagierte, der BND halte sich immer an Gesetz und Recht, und dringende Fragen der US-Regierung unbeantwortet ließe.

Eine solche böse Vision aber scheint jetzt die Realität zu sein - nur sind die ausspionierten Millionen nicht US-Bürger sondern Deutsche, die Ausgespähten sind deutsche Unternehmen, deutsche diplomatische Vertretungen, die abgehörte Regierungschefin ist Kanzlerin in Deutschland - und der Geheimdienst ist die NSA der USA. Damit nicht genug. Die Vorwürfe gehen weit darüber hinaus. Die NSA betreibt nämlich zusammen mit der britischen GCHQ unkontrolliert ein weltumspannendes grenzenloses Überwachungsprogramm. Wir haben es zu tun mit dem größten Spionageskandal der Geschichte.

Seit Monaten werden nahezu täglich neue Informationen bekannt, wie diese Geheimdienste Regierungen, Botschaften und die Kommunikationsströme ganzer Gesellschaften in Europa und Lateinamerika überwachen. Die Enthüllungen haben uns einen tiefen und erschreckenden Einblick in die Macht und in das Eigenleben von Geheimdiensten gegeben. Spionage mag Aufgabe von Geheimdiensten sein. Aber darf sie sich auch gegen Freunde und Bündnispartner richten? Der deutsche BND sagt NEIN. Das tut man nicht, das vergiftet unser gutes Verhältnis. Was jetzt enthüllt wurde, überschreitet das bisher bekannte und akzeptable Maß bei weitem. Es geht nicht mehr um zielgenaue Informationsbeschaffung zur Abwehr von Gefahren, schon gar nicht um die Gefahren des "internationalen islamistischen Terrorismus". Spätestens das Abhören des Telefons der Kanzlerin widerlegt diese Behauptung. Denn welcher Terrorist ruft dort an oder empfängt von dort SMS!

Wir erleben die allumfassende verdachtslose Überwachung unser aller digitalen Kommunikation und unserer Gesellschaften unterschiedslos weltweit. Es geschieht im Geheimen, ohne demokratischer Kontrolle durch Gerichte, Parlamente und Öffentlichkeit. Die Geheimdienste haben ein verselbstständigtes und industriell ausgerichtetes System entwickelt, das nicht mehr vom Ziel konkreter Gefahrenabwehr gelenkt wird, sondern ohne Rechtfertigung nach eigenem Ermessen Ziele, Reichweite und Instrumente der Überwachung festsetzt.

Inwieweit deutsche Geheimdienste daran beteiligt sind und davon profitieren, wollen wir in Deutschland jetzt in einem Untersuchungsausschuss des Parlaments aufklären. Das wird ohne Zeugen und Akten von NSA und US-Administration nicht möglich sein. Nach früheren Erfahrungen werden diese dem Deutschen Bundestag aber nicht zur Verfügung stehen.

Alle jetzigen Erkenntnisse über die Überwachung verdanken wir einem Mann, Edward Snowden. Ohne seine Enthüllungen würde das Telefon der Kanzlerin heute noch abgehört, die Überwachung der Kommunikation der Bevölkerung in den Ländern Europas, Lateinamerikas und den USA unerkannt und geheim immer perfekter fortgesetzt. Ohne Snowden würde im Deutschen Bundestag, im Europäischen -Parlament und im US-Congress nicht seit Monaten über besseren Schutz der Freiheit der privaten und geschäftlichen Kommunikation der Bevölkerung und der Freiheit der Privatsphäre gesprochen. Es würden auch keine Verhandlungen stattfinden über mehr Datenschutz und über No-Spy zwischen Europa und den USA. Edward Snowden zahlt schon jetzt einen hohen Preis dafür, dass er der Welt die Augen geöffnet hat. Er kann kein normales Leben mit seiner Familie und seiner Verlobten mehr führen. Die Perspektiven seines Lebens scheinen düster.

Edward Snowden ist ein amerikanischer Patriot. Er sagt, er habe dies getan für die Grundwerte der US-amerikanischen Gesellschaft Freiheit und Demokratie. Er will die grenzenlose Überwachung der Telekommunikation der US-Bevölkerung, die Gesetzesverletzungen und Verbrechen der NSA in den USA und weltweit beenden. Deshalb will er lieber vor dem zuständigen Komitee des US-Congresses als dem des deutschen Parlaments aufklären.

Die Veröffentlichung der geheimen Informationen über Spionage der NSA, die in Deutschland illegal und strafbar ist, mag in den USA gegen Strafgesetze verstoßen. Aber wir alle schulden Edward Snowden Dank und Anerkennung. Er handelt in einer Notstandssituation, um Schlimmes zu beenden und zu verhindern. Nach deutschem wie auch nach US-Recht kann der Staat auf den Strafanspruch der Gesellschaft verzichten und Straffreiheit gewähren, wenn zur Verteidigung überragender Freiheitsrechte gegen Strafgesetze verstoßen wird. Ein Verbrechen öffentlich zu benennen, darf kein Verbrechen sein . Die USA hat schon länger wirksame Gesetze zum Schutz solcher verdienstvoller Whistleblower vor Sanktionen und Nachteilen; um solche weisen Regelungen beneiden wir Deutschen die USA.

Nach aktuellen Umfragen der größten deutschen TV-Stationen ARD sehen 60 % der Deutschen Snowden als Held, nur 14 % als Straftäter. Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung würdigt damit das couragierte Handeln und das Aussprechen geheimer Tatsachen zum Schutz der Freiheit und der Werte, die wir mit den USA gemeinsam haben. Sie erkennt an, dass Snowdens Handeln nötig war, um die jetzigen Diskussionen hier in Deutschland, in den USA und der Welt anzustoßen und um die notwendigen Konsequenzen aus der NSA-Überwachungspraxis zu ziehen.

Kein Zweifel, das deutsch-amerikanische Verhältnis ist stark belastet. Auch wegen der Erfahrungen in der jüngeren deutschen Geschichte sind viele Deutsche sensibel, wenn es um grenzenlose geheime staatliche Überwachung geht. Das Vertrauen in die USA ist gestört und die Enttäuschung enorm. Für viele Deutsche sind die USA Freund und in Teilen auch Vorbild. Die mit den USA verbundenen Werte von Freiheit und Selbstbestimmung finden Zuspruch in Deutschland. Die aktuellen Enthüllungen aber haben Zweifel an den USA gesät. Nach einer aktuellen Umfrage sehen nur noch 35% der Deutschen die USA als einen vertrauenswürdigen Partner an. Das ist die Situation in Deutschland im November 2013, 24 Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges.

Schuld sind nicht die Enthüllungen Snowdens, sondern das illegale Ausspionieren der gesamten elektronischen Kommunikation durch NSA zusammen mit dem britischen GCHQ, von dem jeder und jede betroffen ist bis hin zur Bundeskanzlerin. Wir sehen diese umfassende Überwachung als Beginn einer Kernschmelze von Freiheitsrechten und Rechtsstaat.

Die deutsche Regierung hat beim Schutz ihrer Bevölkerung versagt. Sie hat über Monate nur devot und kraftlos gegenüber den USA reagiert. Sie hat im Sommer den Beschwichtigungen von NSA, General Alexander und US-Administration, Gesetz und Recht werde auch in Deutschland immer geachtet, blind Vertrauen geschenkt. Sie hat nicht mal energisch auf Aufklärung bestanden und bis heute kritiklos hingenommen, dass ihr Fragenkatalog immer noch nicht beantwortet ist. Minister haben die Vorwürfe für erledigt erklärt, bis sie von der Realität des Abhörens des Telefons der Kanzlerin eingeholt wurden. Die Regierung lehnt bisher trotzdem Aufnahme und Vernehmung des Zeugen Snowden in Deutschland ab, obwohl rund die Hälfte der deutschen Bevölkerung dies in jüngsten Umfragen der beiden größten deutschen Fernsehanstalten befürwortet hat.Die deutsche Regierung weiß, dass er bei der Aufklärung helfen kann, will ihn jedoch aus Angst vor der Reaktion der USA nur in Moskau befragen trotz vieler gewichtiger Gründe, die dagegen sprechen.

Das Ansehen der Staaten mit demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen leidet darunter, dass Edward Snowden bisher nicht dort, sondern nur in Russland Zuflucht und sicheren Aufenthalt findet.

Es ist beschämend, dass diese Staaten in Europa die Auseinandersetzung mit den USA scheuen und Snowdens Schicksal und Sicherheit lieber Russland überantworten. Unter Aufgabe der Souveränitätsrechte haben sie auf Wunsch der USA den Luftraum über Westeuropa gesperrt, als es im Sommer das Gerücht gab, Snowden sitze in einem Flugzeug von Moskau in ein Zufluchtsland in Südamerika.

Wir begrüßen die intensiven Diskussionen im US-Congress über einen "USA Freedom Act", um den "permanenten Missbrauch des Patriot Act zu beenden und die individuellen Freiheitsrechte zu stärken", also um Freiheit und Patriotismus wieder in eine rechte Balance zu bringen. Bei vielen Programmen der Geheimdienste stellen sich Fragen ihrer Rechtmäßigkeit auch in den USA. Hoffnungsvoll stellen wir fest, dass die Überwachungswut der US-Geheimdienste auf den Prüfstand kommen und ihre Tätigkeit besser kontrolliert und begrenzt werden soll. Das muss auch für Tätigkeiten der US-Geheimdienste im Ausland gelten. Wir begrüßen daher den angekündigten Besuch einer Delegation des US-Congresses in Europa. Wir halten Gespräche zwischen deutschen und US-Parlamentarier für richtig und notwendig, um Informationen auszutauschen und über Konsequenzen zu reden - auch über eine Aufnahme und Befragung von Edward Snowden in Deutschland. Beides wollen wir, um die Fakten vollständig aufzuklären, aus humanitären Gründen und weil wir Edward Snowden dankbar sind.

Dies dient aber auch der Verbesserung der Beziehungen unserer beider Länder und dem Schutz gemeinsamer Werte einer freien unüberwachten Kommunikation und Privatheit.

MALTE SPITZ und HANS-CHRISTIAN STRÖBELE 17. November 2013