Wahlkampf 2013

Brief zum Großen Lauschangriff

30.06.2005: Brief von Hans-Christian Ströbele und Jerzy Montag an den Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen zum Thema Großer Lauschangriff

Liebe Freundinnen und Freunde, in den letzten Tagen hat es viele Nachfragen und auch zuweilen Kritik an dem Kompromiss zum Großen Lauschangriff gegeben. Wir wollen deshalb anhand des Ablaufes genauer erläutern, was dessen Inhalt ist und warum wir dem zugestimmt haben.

1. Vorgeschichte

Anfang 1998 war in einer schwarz-gelb-roten Allianz der Große Lauschangriff im Grundgesetz verankert worden, wodurch dieses tief in die Privatsphäre eingreifende Ermittlungsinstrument erst ermöglicht wurde. Außerdem wurden - ebenfalls mit Hilfe der FDP, die hierfür 1996 sogar ihre damalige Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger geopfert hatte - massive Lauschbefugnisse in die Strafprozessordnung eingefügt. Bündnis 90/Die Grünen haben den Großen Lauschangriff immer abgelehnt und das auch mit der Verfassungswidrigkeit begründet.

Das Bundesverfassungsgericht entschied am 3. März 2004: Der Große Lauschangriff im Grundgesetz ist verfassungsgemäß, die Regelungen in der Strafprozessordnung zu seiner Durchführung sind aber zum großen Teil verfassungswidrig. Bis zum 30. Juni 2005 muss ein verfassungsgemäßer Zustand hergestellt werden, wenn die Regelung nicht auslaufen soll. Damit war zwar einerseits ein wichtiger Erfolg erzielt, andererseits war uns ein wichtiges Argument für die generelle Ablehnung aus der Hand geschlagen. Hinzu kam: Die Abhörzahlen zeigten, dass die Strafverfolgungsbehörden von dem Instrument nicht so exzessiv Gebrauch machen, wie es befürchtet wurde. 2003 wurde die Wohnraumüberwachung 37 Mal angeordnet, im Jahr davor 30 Mal. Die Erfolgsquote lag bei über 50 Prozent. Auch bei uns gab es Stimmen, die nicht wollten, dass die Grünen als diejenigen dastehen, die die Polizei an erfolgreicher Arbeit hindern.

2. Der rot-grüne Entwurf

Wir haben die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts strikt durch eine rechtsstaatliche, sehr eingegrenzte Regelung umgesetzt. Dabei haben wir viele verfahrensrechtliche Sicherungen und Abhörverbote eingebaut. Die Berichts- und Benachrichtigungspflichten haben wir erheblich verbessert.

Das Gesetz gewährleistet den vom Bundesverfassungsgericht geforderten absoluten Schutz der Menschenwürde und des "Kernbereichs privater Lebensgestaltung". Anderslautende Vorwürfe der FDP sind unzutreffend: Soweit anzunehmen ist, dass beim Abhören privateste Äußerungen erfasst werden, darf die Wohnraumüberwachung erst gar nicht angeordnet werden. Es muss sogar positiv anzunehmen sein, dass solche Äußerungen gerade nicht erfasst werden. Kommt es doch zum Abhören solcher Informationen, muss sofort abgeschaltet werden. Die Aufzeichnungen sind dann zu löschen. Die gewonnenen Erkenntnisse dürfen nicht verwertet werden. Für die Praxis bedeutet das, dass vor einem Lauschangriff erst einmal ermittelt werden muss, wer wann im Haus ein- und ausgeht und wann welche Art von Kommunikation zu erwarten ist. In der Regel wird die Polizei "live" mithören und bei Bedarf übersetzen müssen. Schon das hat zu heftigen ablehnenden Reaktionen bei Union und Ermittlungsbehörden geführt. Das Ergebnis ist aber vom Bundesverfassungsgericht und von uns so gewollt. Das Band darf also nicht einfach mitlaufen, ohne dass jemand die Kontrolle behält. Gespräche mit Berufsgeheimnisträgern (insbesondere Ärzte, Anwälte, Seelsorger, Journalisten) dürfen überhaupt nicht abgehört werden. Das haben wir nach heftigem Streit mit dem Bundesjustizministerium durchgesetzt.

Die Zahl der abhörfähigen Taten wird erheblich verringert. Über 20 Tatbestände, die eine Freiheitsstrafe von nur bis 5 Jahre vorsehen, fallen aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Katalog heraus. Hier haben wir im parlamentarischen Verfahren und in dessen Vorfeld Begehrlichkeiten des Bundesjustizministeriums und des Koalitionspartners, dies zu unterlaufen, zunächst abgewehrt. Diese wollten kriminelle Vereinigungen im besonders schweren Fall (§ 129 Abs. 4 StGB, Rädelsführer und Hintermänner), die das Verfassungsgericht aus dem Katalog gestrichen hatte, wieder abhörfähig machen und zu diesem Zweck den Strafrahmen pauschal verdoppeln. Das haben wir aus dem ersten Gesetzentwurf des Ministeriums herausgestrichen.

Um dem Bundesrat entgegen zu kommen und in der öffentlichen Diskussion keine innenpolitische Angriffsfläche zu bieten, haben wir im Rechtsausschuss auf Druck der SPD eine Ergänzung der Katalogtaten aufgenommen: Wir haben den Lauschangriff auch bei Verdacht auf banden- oder gewerbsmäßige Verbreitung von Kinderpornographie zugelassen. Dies hat allerdings offensichtlich nicht gereicht, um ein Vermittlungsverfahren zu verhindern.

3. Vermittlungsverfahren

Im Vermittlungsverfahren haben uns FDP und Union in Kompromisse gezwungen. Wir haben es aber geschafft, diese auf ein Minimum zu beschränken, das wir vertreten können. Abhörfähige Taten sind und bleiben nur schwerste Straftaten, die zur Organisierten Kriminalität gerechnet werden können. Die Union wollte mit der Anrufung des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat vor allem durchsetzen, dass der Straftatenkatalog für den Einsatz der Wanzen erheblich ausgeweitet wird. Sie drängte darauf, dass auch bei allen "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" in die Wohnung eingedrungen werden darf, ebenso pauschal bei Rädelsführern und Hintermännern jeglicher krimineller Vereinigungen, wie es schon die SPD verlangt hatte, sowie bei gewerbs- und bandenmäßigem Fälschen von Schecks und Zahlungskarten. Außerdem sollte eine Erschwerung der wiederholten Verlängerung (Anordnung durch das Oberlandesgericht nach 6 Monaten) geschleift und das Lauschen bei Einwilligung von Wohnungsinhabern zu Lasten anderer Anwesender ermöglicht werden. Die FDP hat die dadurch entstehende Verhandlungslage mitzuverantworten, denn sie hat diese auf Verschärfung zielenden Anrufungsgründe in den von ihr mitregierten Ländern mitgetragen. Sie kann sich jetzt nicht aus der Verantwortung stehlen und ihre Hände in Unschuld waschen.

Ergebnis des Vermittlungsverfahrens:

Die Wunschliste des Bundesrates wurde deutlich zusammengestrichen. Die akustische Wohnraumüberwachung findet nun auch bei "gewerbs- und bandenmäßigem Fälschen von Schecks und Zahlungskarten" Anwendung. Geldfälschung war schon vorher im Katalog. Der Unterschied zur Kreditkartenfälschung wäre schwer erklärbar gewesen. Statt nahezu aller Sexualstraftaten wurden vier schwerste Sexualdelikte, z.B. gemeinschaftlich begangene Vergewaltigung und sexueller Missbrauch von Kindern zur Herstellung von Kinderpornographie dem Katalog hinzugefügt. Wenn es eine Rechtfertigung für die Ergänzung des Lauschkatalogs gibt, dann zur Aufklärung solcher Verbrechen.

Zusätzlich können künftig Rädelsführer und Hintermänner von kriminellen Vereinigungen abgehört werden, aber nur dann, wenn es sich um Vereinigungen handelt, die sich zur Begehung besonders schwerer Straftaten zusammengetan gaben und ausschließlich solche Taten zum Inhalt haben, die bereits als Einzeltaten abhörfähig sind. Damit kann die Ermittlungstätigkeit vorverlagert werden, aber nicht für Delikte, die nicht schon ohnehin im Katalog enthalten sind. Wenn also bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass eine Gruppe von mindestens drei Menschen über längere Zeit organisiert Kinder misshandelt und gefilmt haben, um diese Videos zu vertreiben, darf zur Aufklärung gelauscht werden. Es darf aber auch gelauscht werden, wenn der Verdacht nahe liegt, dass sich eine Vereinigung zur späteren Begehung solcher Verbrechen gebildet hat. Dagegen darf eine Vereinigung mit dem Zweck, Diebstahl, Landfriedensbruch oder Sachbeschädigung zu begehen, weiterhin nicht Objekt von Lauschangriffen sein. Das ist eine wesentlich engere Lösung als von Union und SPD angestrebt. Verkürzt gesagt: Kriminelle Vereinigung für organisierte Schwerstkriminalität - Chefs abhören ja; Kriminelle Vereinigung für Kleinkriminalität - nein.

Soweit wir das Abhören krimineller Vereinigungen in engen Grenzen zugelassen haben, mussten wir allerdings auch eine Erhöhung des Strafrahmens auf 10 Jahre hinnehmen. In dieser Kompromissfassung sehen wir keine Umgehung des Bundesverfassungsgerichts mehr. Denn wir haben nicht einfach einen herausgestrichenen Paragraphen wieder hineingeschrieben, sondern einen "besonders schweren Fall des besonders schweren Falls" der kriminellen Vereinigung herausdestilliert, der nach den inhaltlichen Kriterien einen entsprechenden Strafrahmen rechtfertigt.

In konkreten Abhörzahlen wird sich der Kompromiss - wenn überhaupt - kaum auswirken. Schon bisher wurde § 129 Abs. 4 StGB kaum als Abhörtatbestand genutzt. Nach der Eingrenzung werden noch weniger Anwendungsfälle übrig bleiben.

Warum haben wir uns überhaupt auf einen Kompromiss eingelassen?

Nach den Wahlen in Schleswig-Holstein und NRW hat die Union im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss die Mehrheit. Wir hätten gerne den schwarzen Vorschlag im Vermittlungsausschuss ins Leere laufen gelassen und ihn im Bundestag rot-grün niedergestimmt. Dann hätte der Bundesrat nur noch die Entscheidungsmöglichkeit gehabt, unseren Gesetzentwurf zu akzeptieren oder den Großen Lauschangriff zum 1. Juli 2005 zu beenden. Diese Taktik hätte mit guten Nerven aufgehen können, wenn die SPD mitgemacht hätte.

Aber die SPD wollte selbst Verschärfungen durchsetzen und hat sich nicht auf eine harte Ablehnungslinie zwingen lassen. Der Koalitionspartner hat in Verhandlungen im Vorfeld des Vermittlungsverfahrens unverhohlen und ernsthaft damit gedroht, im Bundestag für die noch viel weiter gehende Lösung im Sinne der Union zu stimmen, etwa die uneingeschränkte Aufnahme des § 129 Abs. 4 StGB in das Lauschgesetz. Dies hätte breite Unterstützung in der SPD-Fraktion gefunden, besonders bei den Innenpolitikern. Wir hätten den großen Koalitionskrach riskiert und wahrscheinlich verloren. Die Koalition wäre an der Frage zerbrochen, ob "Rädelsführer krimineller Vereinigungen" mit dem Großen Lauschangriff verfolgt werden sollen, und trotzdem wäre eine weit schärfere Variante des Lauschangriffs Gesetz geworden. Darüber hinaus sollte vermieden werden, dass die Vertrauensfrage mit dem Vorwurf an uns verbunden wird, die GRÜNEN würden sich der Verfolgung organisierter Kriminalität verweigern.

In dieser strategischen Gesamtlage haben wir uns für einen engen, vertretbaren Kompromiss auf Minimallinie entschieden, der Schlimmeres verhindert hat.

Der große Lauschangriff wurde bisher maximal 37 Mal pro Jahr im ganzen Land angeordnet, im Schnitt etwa 30 Mal pro Jahr. In Zukunft werden es durch die von uns eingebauten Hürden weit weniger Fälle sein, wenn das neue Gesetz ordnungsgemäß zur Anwendung kommt. Tötungs- und schwerste Drogenhandelsdelikte werden nach wie vor den Schwerpunkt bilden. Wesentlich bleibt die Eingrenzung durch den erhöhten ermittlungstechnischen Aufwand und die verfahrensrechtlichen Begrenzungen. Von einer Ausweitung kann also keine Rede sein. Manche Praktiker haben den Lauschangriff sogar schon für tot erklärt.

Mit grünen Grüßen

Hans-Christian Ströbele, MdB Jerzy Montag, MdB